Konflikt um Berg Karabach Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan – welche Rolle spielt Russland?

AP / tchs

23.1.2023

Im November vergangenen Jahres schüttelte Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan Putin demonstrativ die Hand. Doch welche Pläne verfolgt Moskau?
Im November vergangenen Jahres schüttelte Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan Putin demonstrativ die Hand. Doch welche Pläne verfolgt Moskau?
Bild: KEYSTONE

Es wächst die Sorge vor einem Wiederaufflammen der Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan - und die Rolle Russlands in dem Konflikt wirft Fragen auf.

AP / tchs

23.1.2023

Zwei Jahre nach dem vorläufigen Ende eines Kriegs zwischen Aserbaidschan und Armenien, bei dem etwa 6'800 Soldaten getötet und rund 90'000 Zivilisten vertrieben wurden, sind die Spannungen zwischen beiden Ländern wieder eskaliert. Im jüngsten Streit geht es um eine sechs Kilometer lange Strasse, die als Latschin-Korridor bekannt ist.

Die kurvige Strasse ist die einzige Landverbindung zwischen Armenien und der von ethnischen Armeniern bewohnten Kaukasusregion Berg-Karabach in Aserbaidschan. Der Korridor wird seit Mitte Dezember von Aserbaidschanern blockiert, die sich als Umweltaktivisten bezeichnen. Durch die Blockade ist die Versorgung der 120'000 Menschen in Berg-Karabach mit Lebensmitteln in Gefahr.

Angesichts des Streits wächst in der Region die Sorge vor neuen Kämpfen und einer möglichen Destabilisierung der politischen Verhältnisse in Armenien. Ausserdem wachsen die Zweifel an den Fähigkeiten und Absichten Russlands, dessen Friedenstruppen die Sicherheit der Strasse gewährleisten sollen.

Die Wurzeln des Streits

Berg-Karabach hat sowohl für Armenier als auch Aserbaidschaner grosse kulturelle Bedeutung. Zu Zeiten der Sowjetunion hatte die Region ein bedeutendes Mass an Autonomie innerhalb Aserbaidschans. Mit dem beginnenden Zerfall der Sowjetunion begehrten armenische Separatisten auf, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam es zum Krieg.

Bis zum Ende der Kämpfe 1994 wurden die meisten aserbaidschanischen Bewohner aus Berg-Karabach vertrieben. Ethnisch-armenische Kräfte, unterstützt von Armenien, übernahmen die Kontrolle nicht nur über Berg-Karabach, sondern auch über grössere aserbaidschanische Gebiete in der Umgebung.

Über die folgenden rund 25 Jahre war Berg-Karabach ein sogenannter «eingefrorener Konflikt». Armenische und aserbaidschanische Truppen standen einander im Niemandsland gegenüber, vereinzelt kam es zu Zusammenstössen. Im September 2020 unternahm Aserbaidschan einen grossangelegten Angriff, um die Region einzunehmen. Die heftigen Gefechte dauerten sechs Wochen.

Etwa 90'000 Zivilisten wurden im zurückliegenden Krieg vertrieben.
Etwa 90'000 Zivilisten wurden im zurückliegenden Krieg vertrieben.
Bild: KEYSTONE

Der Krieg endete mit einem von Russland vermittelten Waffenstillstand. Mit ihm erhielt Aserbaidschan die Kontrolle über Teile Berg-Karabachs und das gesamte, zuvor von Armeniern besetzte Gebiet in der Umgebung zurück. Russland entsandte eine Friedenstruppe mit 2000 Soldaten, um Ruhe und Ordnung zu sichern. Zu ihren Aufgaben zählt auch zu gewährleisten, dass der Latschin-Korridor geöffnet bleibt.

Die aktuellen Probleme

Mitte Dezember begannen Aserbaidschaner, die sich als Umweltaktivisten bezeichnen, mit der Blockade der Strasse. Sie erklärten, mit ihrer Aktion protestierten sie gegen illegalen Bergbau, der von Armeniern betrieben werde. Nach armenischer Darstellung werden die Proteste von Aserbaidschan inszeniert. Aserbaidschan wiederum macht geltend, Armenier hätten den Korridor zum Transport von Landminen nach Berg-Karabach genutzt, was gegen die Bedingungen des Waffenstillstands verstosse.

Nach mehr als einmonatiger Blockade kommt es in Berg-Karabach inzwischen zu Versorgungsengpässen bei Lebensmitteln. Die örtliche Regierung führte am Freitag ein System mit Bezugsscheinen ein, das den Einkauf von Reis, Nudeln, Buchweizen, Zucker und Sonnenblumenöl mengenmässig begrenzt. Die lokalen Behörden fordern eine humanitäre Luftbrücke für wichtige Versorgungsgüter, doch hat Aserbaidschan dem Flughafen der Region keine Betriebserlaubnis ausgestellt.

Zudem hat Aserbaidschan sporadisch die Gasversorgung nach Berg-Karabach unterbrochen, zuletzt am Samstagabend. Auch die Stromversorgung ist reduziert.

Russland, obwohl für den Latschin-Korridor zuständig, ist bislang nicht aktiv geworden, um die Blockade zu beenden. Das Europäische Parlament hat gefordert, die russische Friedenstruppe durch eine Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu ersetzen - obwohl das Parlament die OSZE dafür kritisiert hat, den Status von Berg-Karabach in den Jahrzehnten vor dem Krieg 2020 nicht geklärt zu haben.

Die Konsequenzen

Russland konzentriert sein Augenmerk aktuell auf die Kämpfe in der Ukraine und hat mit Blick auf den Latschin-Korridor eine abwartende Haltung eingenommen und Armenien damit verärgert. Ministerpräsident Nikol Paschinjan sagte in diesem Monat geplante gemeinsame Militärübungen der von Russland geführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit auf armenischem Gebiet ab. Die russische Militärpräsenz in Armenien versage nicht nur dabei, dessen Sicherheit zu garantieren, sondern stelle Sicherheitsrisiken für Armenien dar, sagte Paschinjan. In Armenien gibt es einen russischen Militärstützpunkt.

Russlands Hauptaugenmerk liegt aktuell auf dem Krieg in der Ukraine.
Russlands Hauptaugenmerk liegt aktuell auf dem Krieg in der Ukraine.
Bild: ---/Russian Defense Ministry Press Service via AP/dpa

Die Beteiligung Russlands an der Beendigung des Kriegs 2020 galt als bedeutende Leistung, die seinem Einfluss in der Region Auftrieb gab. Sollte Moskau nicht stärker aktiv werden, um die Strasse wieder zu öffnen, könnte diese Wertschätzung wieder verloren gehen.

Paschinjans Zustimmung zu der von Russland vermittelten Vereinbarung war in Armenien äusserst unpopulär. Gegner warfen ihm Verrat vor, in Grossdemonstrationen wurde sein Rücktritt gefordert. Sollte der aktuelle Konflikt nicht beigelegt werden, könnte dies neue Unruhen auslösen. Paschinjan ist sich der potenziellen Auswirkungen solcher Proteste durchaus bewusst: Er wurde selbst im Gefolge von Grossdemonstrationen 2018 Ministerpräsident.