Donald Trump besucht das von Rassismus und Gewalt geplagte Kenosha im Swing State Wisconsin, wo er Fakten neu interpretiert und eher spaltet als eint. Die Szene im Kleinen steht für Amerikas Verfassung im Ganzen.
Wisconsin gilt als Swing State – ein Bundesstaat, der mal demokratisch, mal republikanisch wählt. «Diese Wahl wird [hier] um eine Nasenlänge gewonnen oder verloren», prognostiziert Ben Wikler, der seit einem Jahr die Demokraten in Wisconsin anführt, im Gespräch mit der «Washington Post».
Er muss es wissen: 2016 holte Hillary Clinton zwar die meisten Wählerstimmen, doch die damalige Präsidentschaftskandidatin unterlag Donald Trump, weil der mehr Wahlmänner aufbieten konnte – durch Siege in Swing States wie Wisconsin.
Die Ausgangslage im «Dachs-Staat» ist heute ähnlich wie damals: Dort, wo viele Menschen leben, liegen die Demokraten vorne – etwa im Bezirk der Hauptstadt Madison oder um Milwaukee herum. Ländliche Regionen dagegen sind fest in Republikanerhand.
Damit sich ein Szenario wie 2016 nicht wiederholt, müssen Trumps Gegner bis zum 3. November kämpfen, glaubt Wikler. «[Wir] Demokraten sollten Wahlkampf machen, als lägen sie drei Punkte zurück und hätten die Chance, im letzten Moment doch noch zu gewinnen, wenn sie alles in ihrer Macht Stehende tun.»
Die Sache mit der Nationalgarde
Vor diesem Hintergrund hat der US-Präsident am Montag Kenosha besucht, wo Polizisten erst den Schwarzen Jacob Blake mit sieben Schüssen in den Rücken niedergestreckt hatten und ein 17-jähriger Trump-Fan bei den folgenden Demonstrationen zwei Menschen mit einer Schrotflinte erschoss. Was das Ziel seines Besuches ist, macht Donald Trump gleich nach der Landung in Wisconsin deutlich.
«USA, USA»: Trumps Ankunft in Wisconsin, sein Konvoi nach Kenosha und ein Blick in das Lager der Unterstützer des Präsidenten inklusive Volkes Stimme.
Dem Mann aus dem Weissen Haus geht es darum, Durchsetzungskraft zur Schau zu stellen: Der 74-Jährige sorgt für «Recht und Ordnung», lautet die ein wenig in die Jahre gekommene Parole. Dabei scheut Trump sich nicht, die Leistung anderer für sich zu beanspruchen.
«Es ist ein grossartiger Staat, grossartige Leute», spricht Trump am Wukegan Airport in die Mikrofone der Reporter. «Die Gewalt hat aufgehört, sobald die Nationalgarde da war.» Auf einer Pressekonferenz wiederholt er später, Washington stünde mit der Nationalgarde parat, falls die Gouverneure riefen. So wie in Wisconsin: «Sobald wir sie in Gang gesetzt haben, benahm man sich sehr anständig.»
Das Problem: Nicht Trump hat die Nationalgarde angefordert, sondern der demokratische Gouverneur von Wisconsin: Tony Evers rief die Nationalgarde bereits einen Tag nach den Schüssen auf Blake zur Hilfe.
Die Sache mit dem Todesschützen
Trump wird vor seinem Rückflug nach Washington auf den 17-jährigen Todesschützen angesprochen, der ein glühender Verehrer des Präsidenten sein soll. «Wir schauen uns das alles an», sagt er auf der Pressekonferenz. «Und das war eine interessante Situation. Sie haben auch den Clip gesehen, den ich gesehen habe. Und er hat versucht, von ihnen wegzukommen, denke ich. Es sieht so aus.»
Trump impliziert, der Teenager habe in Notwehr gehandelt. «Er ist hingefallen, und sie haben ihn höchst gewalttätig angegriffen. Und das ist etwas, was wir uns jetzt anschauen und was untersucht wird. Ich glaube, er war in sehr grossen Schwierigkeiten. Er wäre vielleicht getötet worden.» Das ist starker Tobak, denn die Anklage wirft dem 17-Jährigen, der illegal mit einer halbautomatischen Waffe in die Stadt gekommen war, Mord vor.
Zumal der Anwalt des ersten Opfers die Sache ganz anders darstellt: Demnach ist Joseph Rosenbaum dem Schützen auf einen Parkplatz gefolgt, habe ihn mit einem Plastiksäckli beworfen und versucht, ihn zu entwaffnen. Der Täter drückte zweimal ab, die Kugeln trafen in Hüfte sowie Rücken – Rosenbaum starb an perforierter rechter Lunge und Leber.
Die Sache mit Blakes Familie
Anschliessend flieht der Schütze, der von Demonstranten verfolgt wird, die schreien, er habe jemanden erschossen. Als er stolpert, versucht einer der Verfolger, ihm die Waffe abzunehmen. Anthony Huber hat ein Skateboard in der Hand, als ihn ein Schuss in die Brust trifft und seinem Leben ein Ende setzt. Ein zweiter Schuss verletzt eine weitere Person, zitiert der Lokalsender Channel 3000 aus der Anklageschrift.
WGN News filmt in beiden Lagern.
Diese diametralen Darstellungen der Ereignisse finden sich auch auf der Strasse, als Trump die Stadt erreicht: Die Lager der Trump-Befürworter und der Black-Lives-Matter-Bewegung werden von der Polizei sorgsam getrennt. Mittendrin ist die Familie von Jacob Blake, der von der Hüfte abwärts gelähmt ist, seit ihn am 23. August vier von sieben angefeuerten Kugeln in den Rücken getroffen haben.
Um sein Schicksal geht es bei Trumps Besuch aber nicht: Ein Treffen mit den Angehörigen wurde vom Weissen Haus nie angeboten. Wie der Reporter des Lokalsenders WGN News berichtet, habe man darauf verwiesen, dass der Präsident ein Treffen mit dem Pastor der Familie erwogen habe. Das Problem hier: Die Blakes haben demnach gar keinen Familienpastor.
Spaltung als Programm
Die Ansprüche der Angehörigen sind denkbar tief. «Alles, worum ich bitte», erklärt Jacob Blakes Onkel Justin der Presse, «ist, dass er [Trump] seine Respektlosigkeiten und seine üble Nachrede bei meiner Familie unterlässt. Wir brauchen einen Präsidenten, der das Land eint und in eine andere Richtung steuert.»
Dass Trump nicht auf Einigung setzt, macht seine Rede in Wisconsin mehr als deutlich. Er zeichnet ein Bild von Chicago, Portland, New York und Kenosha, wo der «Mob» regiere. Dieser ist bei ihm nicht bloss der Pöbel von der Strasse, sondern gleichzeitig auch eine «Mafia». Kurzum: ein gesellschaftlicher Sprengsatz aus «Antifa», Sozialisten und Öko-Träumern, der Vororte aufmischen, Staatsgeld verpulvern und Jobs zerstören will.
Die präsidiale Visite zeigt im kleinen Kenosha, Wisconsin, woran Amerika derzeit krankt – notabene unter der Prämisse der Pandemie und der Proteste für Gleichberechtigung. Trump setzt dabei zwar vordergründig auf «Law and Order», nimmt es selbst aber mit der Wahrheit nicht so genau. Der New Yorker polarisiert bewusst und besucht lieber ein abgebranntes Geschäft als die Familie von Jacob Blake.
Sein Wahlkampf zementiert eine immer tiefer wirkende Spaltung der einst Vereinigten Staaten zwischen Stadt und Land. Ob diese Strategie Erfolg hat, wird sich in zwei Monaten herausstellen: Auch die Demokraten haben nach 2016 wohl begriffen, dass das Rennen um die Präsidentschaft noch lange nicht gelaufen ist.