ÜbersichtBiden verteidigt Abzug +++ Warten auf Taliban-Regierung in Afghanistan
Agenturen/red
1.9.2021
Nach fast 20 Jahren ist der Militäreinsatz am Hindukusch beendet. Trotz aller Kritik an dem Chaos rund um den Abzug steht US-Präsident Biden unbeirrt zu seinem Entschluss. Jetzt sind die Taliban als die neuen Machthaber am Zuge, ihre Art des Regierens zu vorzustellen.
Agenturen/red
01.09.2021, 21:37
Agenturen/red
Nach dem Ende des internationalen Militäreinsatzes in Afghanistan hat US-Präsident Joe Biden seine umstrittene Abzugsentscheidung vehement verteidigt. «Es war an der Zeit, diesen Krieg zu beenden», sagte Biden am Dienstag (Ortszeit) im Weissen Haus. Die Alternative wäre gewesen, Zehntausende weitere Soldaten in das Land zu schicken und den Konflikt zu eskalieren, argumentierte er. Mit dem Abzug der letzten US-Soldaten vom Flughafen Kabul war in der Nacht zum Dienstag der internationale Afghanistan-Einsatz nach fast 20 Jahren zu Ende gegangen.
Nun richten sich die Blicke auf die erneute Herrschaft der militant-islamistischen Taliban in dem Land. Der deutsche Aussenminister Heiko Maas sagte bei einem Besuch im Golfemirat Katar, dass Deutschland auch nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan eine diplomatische Vertretung in der Hauptstadt Kabul anstrebe — aber nur unter bestimmten Bedingungen.
«Wir warten»
Unterdessen lassen die Taliban mit einer Regierungsbildung weiter auf sich warten. Es gebe noch keine exakten Informationen über den Zeitpunkt, sagte Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid der Deutschen Presse-Agentur am Mittwoch. Auch ob Taliban-Führer Haibatullah Achundsada erstmals nach der Machtübernahme der Islamisten öffentlich auftreten werde, liess er offen. «Wir warten», so Mudschahid.
Recherchen der «New York Times» zufolge könnte Achundsada als oberste religiöse Instanz in einem neuen politischen System in Afghanistan eine ähnliche Rolle spielen wie beispielsweise Irans oberster Führer Ajatollah Ali Chamenei. Afghanistans Nachbarland Iran hat als Staatsform eine Präsidialrepublik, die eigentliche Macht liegt nach der islamischen Revolution 1979 jedoch beim «Revolutionsführer». Chamenei ist Staatsoberhaupt und militärischer Oberbefehlshaber sowie zugleich auch die höchste geistliche Instanz. Laut Verfassung hat er in allen strategischen Belangen das letzte Wort und ein Vetorecht. Wahlen haben die Taliban im Gegensatz zum Nachbarn Iran bisher immer abgelehnt. Ein Wahlrecht gilt daher als äusserst unwahrscheinlich.
Einer möglichen Beteiligung früherer Regierungsmitglieder erteilte ein hochrangiges Mitglied der Islamisten bereits eine Absage. «Wir versuchen, eine Regierung zu bilden, die sowohl intern als auch international unterstützt wird», sagte der Vizechef des politischen Büros der Taliban in Katar, Schir Mohammed Abbas Staneksai. «Aber natürlich werden die Personen, die in den letzten 20 Jahren Ministerien unter ihrer Kontrolle hatten, nicht Teil der neuen Regierung sein», sagte Staneksai im Interview mit dem paschtusprachigen Sender der BBC am Dienstag.
Mit Spannung wird erwartet, ob die Taliban auch Vertreter anderer Volksgruppen sowie Frauen in die Regierung aufnehmen und ob diese dann auch wichtige Ämter übernehmen oder nur eine Alibifunktion haben.
Die USA kündigten unterdessen an, die Abläufe beim Truppenabzug bewerten zu wollen. «Keine Operation ist je perfekt», sagte Verteidigungsminister Lloyd Austin in Washington auf die Frage, ob das US-Militär im Rückblick etwas hätte anders machen sollen.
Austin und US-Generalstabschef Mark Milley erinnerten auch an die Ende vergangener Woche bei dem Anschlag am Flughafen Kabul getöteten US-Soldatinnen und Soldaten. Milley sprach dabei auch von «mehr als 100 getöteten und verwundeten Afghanen». Eine genaue Opferzahl war nach dem Anschlag schwer zu ermitteln gewesen.
Das Terrornetzwerk Al-Kaida gratulierten den Taliban zur Machtübernahme in Afghanistan und sprach mit Blick auf den US-Abzug aus dem Land von einem «historischen Sieg». US-Truppen hatten die Taliban 2001 aus Kabul vertrieben, die Mitgliedern des Terrornetzwerks Unterschlupf gewährt hatten. Heute ist Al-Kaida laut einem UN-Bericht vom Mai 2020 etwa in einem Drittel der afghanischen Provinzen aktiv. Die Beziehungen mit den militant-islamistischen Taliban sind demnach weiter eng. Die Taliban hatten sich im Februar 2020 in einem Abkommen mit den USA eigentlich dazu verpflichtet, ihre Zusammenarbeit mit Al-Kaida zu kappen.
Die Ereignisse des Tages im Überblick:
Das Wichtigste in Kürze:
Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats (APK-N) fordert von der Schweiz mehr Einsatz für Afghanistan.
In Kabul steht der Zeitpunkt für eine Regierungsbildung durch die Taliban weiter in den Sternen.
Beim Pandschirtal liefern sich die Taliban angeblich weiter Gefechte mit Widerstandskämpfern.
London verhandelt mit den Taliban über eine Ausreise von Briten und afghanischen Ortskräften.
Früherer Dolmetscher von Biden sitzt laut Medienbericht in Afghanistan fest
Ein früherer Dolmetscher von US-Präsident Joe Biden sitzt einem Medienbericht zufolge in Afghanistan fest. Der Afghane, der 2008 an einer Rettungsmission für Biden und zwei weitere US-Politiker teilgenommen hatte, habe keine rechtzeitige Ausreisegenehmigung bekommen, berichtete das «Wall Street Journal». Aus Angst vor Vergeltung der Taliban sei er nun gemeinsam mit seiner Familie untergetaucht und hoffe auf Hilfe aus Washington.
«Hallo Herr Präsident: Retten Sie mich und meine Familie», sagte der Übersetzer der Zeitung in einem an Biden gerichteten Hilferuf. «Vergessen Sie mich hier nicht.»
Der Mann, den das «Wall Street Journal» aus Sicherheitsgründen lediglich Mohammed nennt, hatte demnach regelmässig für das US-Militär gearbeitet und Soldaten auf Kampfeinsätzen begleitet. 2008 gehörte er zu einer kleinen Eingreiftruppe, die den damaligen Senator Biden und zwei weitere US-Politiker rettete, nachdem ihr Hubschrauber wegen eines Schneesturms in abgelegenem Gebiet notlanden musste, wie ein ehemaliger Soldat der Zeitung sagte.
Als Reaktion auf den Medienbericht versprach das Weisse Haus dem Dolmetscher Hilfe. «Unsere Botschaft an ihn lautet: Danke, dass du in den letzten 20 Jahren an unserer Seite gekämpft hast», sagte eine Sprecherin. «Wir werden dich da rausholen. Wir werden deinen Dienst ehren.»
In den US-Medien häufen sich derzeit Berichte über afghanische Zivilisten, die für die US-Streitkräfte gearbeitet haben, es jedoch vor dem Ende des Truppenabzugs am Montag nicht ausser Landes schafften. Sie fürchten Vergeltungsakte für ihre Tätigkeit. Präsident Biden steht wegen der Machtübernahme der Taliban und der hastigen Evakuierungsaktion für afghanische Ortskräfte stark unter Druck.
20.43 Uhr
US-Verteidigungsminister will Abzug aus Afghanistan evaluieren
US-Verteidigungsminister Lloyd Austin will die Abläufe beim Truppenabzug aus Afghanistan evaluieren — aber ohne Eile. «Keine Operation ist je perfekt», sagte Austin in Washington auf die Frage, ob das US-Militär im Rückblick etwas hätte anders machen sollen. Es habe keine Mission gegeben, an der er je beteiligt gewesen sei, bei der nicht im Rückblick klar geworden wäre, was besser oder effizienter hätte ablaufen können. Auch in diesem Fall werde es eine Nachbetrachtung geben, und das US-Militär werde seine Lehren daraus ziehen, versprach Austin. «Aber ich möchte mir die Zeit nehmen, das auf richtige Art und Weise zu machen.»
Austin sagte, die vergangenen Tage seien für viele schwierig gewesen. Er hoffe aber, dass das Land «mit Bedacht und Respekt» auf den Einsatz in Afghanistan zurückschauen werde. «Ich werde immer stolz sein auf die Rolle, die wir in diesem Krieg gespielt haben», betonte er, räumte aber ein, dass es auch innerhalb des Militärs und unter Afghanistan-Veteranen andere Ansichten gebe. Er habe in den vergangenen Tagen deutliche Meinungen von verschiedenen Seiten gehört. Es gebe unterschiedliche Auffassungen in beiden politischen Lagern. «Und das ist wichtig. Das ist Demokratie. Das ist Amerika.»
Auch US-Generalstabschef Mark Milley sagte mit Blick auf den verlustreichen Afghanistan-Einsatz und die turbulente Abzugsphase: «Das waren unglaublich emotionale und fordernde Tage, und sogar Jahre.» Alle hätten mit widerstreitenden Gefühlen zu tun, «Schmerz und Angst, Kummer und Traurigkeit, gemischt mit Stolz und Widerstandskraft». Aber jeder militärische Konflikt sei «böse» und «brutal», betonte er: «Krieg ist hart.»
20.14 Uhr
USA: Bei Attacke in Kabul mehr als 100 Afghanen getötet oder verletzt
Bei dem Anschlag am Kabuler Flughafen Ende vergangener Woche sind nach Angaben des US-Militärs «mehr als 100 Afghanen getötet oder verwundet» worden. Das sagte US-Generalstabschef Mark Milley bei einer Pressekonferenz im Pentagon. Milley erinnerte ausserdem an die 13 getöteten und 22 verwundeten US-Soldaten und Soldatinnen. «13 unserer Besten bezahlten den höchsten Preis», sagte Verteidigungsminister Lloyd Austin.
Bei dem Anschlag am vergangenen Donnerstag hatte sich nach US-Angaben ein Selbstmordattentäter der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) an einem Tor des Flughafens der afghanischen Hauptstadt in die Luft gesprengt und zahlreiche Menschen mit in den Tod gerissen. Ausserdem eröffneten mehrere Schützen das Feuer. Das US-Militär hatte zunächst mit einem Drohnenangriff in der Provinz Nangarhar reagiert und nach eigenen Angaben zwei ranghohe Vertreter des IS-Ablegers Isis-K getötet.
19.19 Uhr
RSF: Zahl der Journalistinnen in Afghanistan drastisch gesunken
Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist die Zahl der weiblichen Journalisten in dem Land nach Angaben von Reporter ohne Grenzen (RSF) drastisch gesunken. Während bisher rund 700 Journalistinnen in der Hauptstadt Kabul tätig waren, sind es inzwischen weniger als hundert, wie die Organisation mitteilte.
Von den 510 Frauen, die 2020 bei den acht grössten Medienkonzernen des Landes tätig waren, arbeiten laut RSF mittlerweile nur noch 76, darunter 39 als Journalistinnen. Hinzu kämen noch einige Journalistinnen bei kleineren Medien.
Afghanische Journalistinnen werden demnach zunehmend aufgefordert, zu Hause zu bleiben. In mehreren Fällen seien Pressevertreterinnen bei ihrer Arbeit gestört, bedrängt oder sogar geschlagen worden. Die Zahlen belegen RSF zufolge «gewissermassen das Verschwinden von Journalistinnen» aus der afghanischen Öffentlichkeit.
Trotz Zusicherungen der Taliban, die Pressefreiheit zu respektieren, entstünden unter der Herrschaft der Islamisten «neue Medienlandschaften», warnte die Organisation.
RSF forderte die Taliban auf, die Freiheit und Sicherheit von Medienvertreterinnen zu gewährleisten. «Es ist wichtig, dass Journalistinnen ungestört zu ihrer Arbeit zurückkehren können, was ihr grundlegendes Recht ist», erklärte RSF-Generalsekretär Christophe Deloire.
Viele Beobachter warnen davor, die Zusagen der Taliban für bare Münze zu nehmen, da die Gruppe in der Vergangenheit immer wieder Vereinbarungen gebrochen hat. Während ihrer Herrschaft 1996 bis 2001 hatten die Taliban alle Medien mit Ausnahme ihres Radiosenders «Stimme der Scharia» verboten.
18.20 Uhr
Kurz: Österreich nicht zur Aufnahme weiterer afghanischer Flüchtlinge bereit
Österreich ist nach den Worten von Bundeskanzler Sebastian Kurz nicht zur Aufnahme weiterer afghanischer Flüchtlinge bereit. «Wir werden nicht zusätzlich Menschen aus Afghanistan aufnehmen», betonte Kurz bei «Bild live». Bereits in Österreich lebende Afghanen sollen demnach weiterhin abgeschoben werden - allerdings nicht nach Kabul, sondern in ihre ursprünglichen Ankunftsländer in Europa.
Der Blick in die Zukunft Afghanistans sei «ein düsterer», räumte Kurz ein. Angesichts der «schrecklichen Situation in Afghanistan» drohe jedoch eine «ungesteuerte Migration» nach Europa. «Ein neues 2015» müsse verhindert werden, sagte der österreichische Kanzler mit Blick auf die Flüchtlingskrise vor sechs Jahren.
Kurz war am Dienstag von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel im Kanzleramt empfangen worden. Bereits vor diesem Treffen hatte der konservative Politiker seine Haltung bekräftigt, wonach Österreich nicht zur Aufnahme einer grösseren Zahl an afghanischen Flüchtlingen bereit sei.
Mit Blick auf eine mögliche Fluchtbewegung aus Afghanistan nach der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban hatten die EU-Innenminister am Dienstag bei einer Sondersitzung finanzielle Hilfen für die Nachbarstaaten Afghanistans sowie Transitländer gefordert. Die Gelder sollen fließssen, wenn diese Länder sich zur Aufnahme afghanischer Flüchtlinge bereit erklären und Massnahmen ergreifen, damit diese die Region nicht verlassen. Einen entsprechenden Aktionsplan soll nun die EU-Kommission ausarbeiten.
17.03 Uhr
UN sehen Afghanistan vor Hungerkrise
Afghanistan steht nach UN-Angaben vor einer Nahrungsmittelknappheit. Ohne zusätzliche Mittel seien die Nahrungsmittelvorräte Ende des Monats aufgebraucht, sagte der UN-Koordinator für Humanitäre Hilfe in Afghanistan, Ramiz Alakbarov, am Mittwoch. Die Nahrungsmittelsicherheit für rund ein Drittel der etwa 38 Millionen Einwohner könne in eine Krise geraten oder sich sogar zu einem Notfall auswachsen.
Alakbarov sagte, das Welternährungsprogramm habe in den vergangenen Wochen Nahrungsmittel an Zehntausende Menschen in Afghanistan verteilt. Doch angesichts des nahenden Winters und einer schweren Dürre werde zusätzliches Geld benötigt, um die Bevölkerung zu ernähren. Von den notwendigen 1,3 Milliarden Dollar seien aber nur 39 Prozent eingegangen.
16 Uhr
Katar fordert Zusicherung für «sichere Ausreise»
Die katarische Regierung hat von den in Afghanistan an die Macht gelangten Taliban Garantien für eine «sichere Ausreise» von Schutzbedürftigen verlangt. Es müsse Freizügigkeit für alle Menschen gelten, die Afghanistan verlassen oder nach dort einreisen wollten, sagte der katarische Aussenminister Scheich Mohammed bin Abulrahman al-Thani am Mittwoch nach einem Treffen mit seiner niederländischen Kollegin Sigrid Kaag in Doha.
Die «Verpflichtungen» der Taliban müssten erfüllt werden, sobald der Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul wieder funktionstüchtig sei, sagte der katarische Aussenminister. Kaag kündigte an, dass die Niederlande ihre diplomatische Vertretung nach Katar verlegen würden. Die Niederlande folgen damit dem Beispiel der USA und Grossbritanniens. Afghanistan dürfe nicht wieder zu einer «Basis für terroristische Organisationen werden», sagte die niederländische Aussenministerin.
Katar war das Transitland für rund 43'000 Menschen, die aus Afghanistan flohen. Insgesamt verliessen im Zuge der westlichen Evakuierungsaktionen mehr als 123'000 Ausländer und Afghanen das Land.
15.31 Uhr
Präsident des EU-Parlaments enttäuscht über Afghanistan-Erklärung
Der Präsident des Europaparlaments David Sassoli hat die Entscheidung der EU-Staaten kritisiert, vorerst keine Zusagen zur Aufnahme von Menschen aus Afghanistan zu machen. «Wir waren sehr enttäuscht über die gestrigen Schlussfolgerungen des Rates für Inneres», sagte Sassoli am Mittwoch als Reaktion auf eine gemeinsame Erklärung der EU-Innenminister. Man habe gesehen, wie Länder ausserhalb der EU afghanische Asylbewerber aufgenommen hätten. «Aber wir haben nicht einen Mitgliedsstaat gesehen, der dasselbe getan hat», kritisierte er bei einer Veranstaltung der derzeitigen slowenischen EU-Ratspräsidentschaft in Bled.
14.45 Uhr
Al-Kaida gratuliert Taliban zum «historischen Sieg»
Das Terrornetzwerk Al-Kaida hat den Taliban zur Machtübernahme in Afghanistan gratuliert und mit Blick auf den US-Abzug aus dem Land von einem «historischen Sieg» gesprochen. Das «Generalkommando» Al-Kaidas verbreitete über seinen Propagandaflügel Al-Sahab am Dienstagabend eine zweiseitige Mitteilung. «Das afghanische Debakel Amerikas und der Nato markiert den Anfang vom Ende einer dunklen Ära westlicher Vorherrschaft und militärischer Besatzung islamischer Länder», heißt es darin. Das afghanische Volk sei aufgerufen, den Taliban zu vertrauen und sie zu unterstützen.
US-Truppen hatten die Taliban 2001 aus Kabul vertrieben, die Mitgliedern des Terrornetzwerks Unterschlupf gewährt hatten. Heute ist Al-Kaida laut einem UN-Bericht vom Mai 2020 etwa in einem Drittel der afghanischen Provinzen aktiv. Die Beziehungen mit den militant-islamistischen Taliban sind demnach weiter eng. Die Taliban hatten sich im Februar 2020 in einem Abkommen mit den USA eigentlich dazu verpflichtet, ihre Zusammenarbeit mit Al-Kaida zu kappen.
«Zu diesem historischen Ereignis möchten wir das islamische Emirat beglückwünschen, besonders (Taliban-Führer) Haibatullah Achundsada», teilte Al-Kaida mit. «Gott hat uns den Sieg versprochen und Bush die Niederlage, wir werden sehen, welches Versprechen erfüllt wird», schreiben die Autoren mit Verweis auf den früheren US-Präsidenten George W. Bush, der den US-Einmarsch in Afghanistan nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 angeordnet hatte.
12.55 Uhr
Papst legt Merkel aus Versehen Putin-Zitat in den Mund
Papst Franziskus hat Kritik des russischen Präsidenten Wladimir Putin an der Interventionspolitik des Westens in Afghanistan irrtümlich der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel zugeschrieben. Das Oberhaupt der katholischen Kirche bezeichnete Merkel als eine «der grossen Persönlichkeiten der internationalen Politik» und zitierte sie dann mit diesem Satz: «Es ist notwendig, der unverantwortlichen Politik des Eingreifens von aussen und des Aufbaus der Demokratie in anderen Ländern unter Ignorierung der Traditionen der Völker ein Ende zu setzen.»
Zwar hat auch Merkel angesichts des Afghanistan-Debakels betont, dass international darüber beraten und künftig gut abgewogen werden müsse, wo man sich einsetzt – das vom Papst genannte Zitat ist aber die Position Putins, der dem Westen schon länger Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Länder vorwirft.
Der Papst aber lobte in einem am Mittwoch gesendeten Interview des spanischen Radiosenders Cope die «Weisheit» der Worte «dieser Frau» während ihres Moskau-Besuchs vor eineinhalb Wochen. Der Vatikan reagierte zunächst nicht auf eine Anfrage zu der Äusserung des 84-jährigen Argentiniers.
11.35 Uhr
Kommission fordert stärkeren Schweizer Einsatz
Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats (APK-N) ist nicht zufrieden mit dem bisherigen Beitrag der Schweiz, für Stabilität und Frieden in Afghanistan zu sorgen. Sie fordert den Bundesrat auf, mehr zu tun.
Die APK-N verabschiedete eine entsprechende Motion, wie die Parlamentsdienste am Mittwoch mitteilten. Damit soll der Bundesrat beauftragt werden, seine Bemühungen für Stabilität in der Region und zur Stärkung der Menschenrechte zu intensivieren – «im Sinne der humanitären Tradition der Schweiz».
Weiter soll dem Parlament, falls nötig, ein Nachtragskredit für die humanitäre Hilfe in Afghanistan unterbreitet werden. Dieser solle sich am jährlichen Volumen für die Hilfe in Syrien orientieren.
11.22 Uhr
Russisches Militär übt an der Grenze zu Afghanistan
Nach dem Abzug der letzten US-Truppen aus Afghanistan haben russische Panzer Schiessübungen im Nachbarland Tadschikistan in Zentralasien absolviert. Die Besatzungen von Kampfpanzern vom Typ T-72 hätten in den Bergen an der Grenze zu Afghanistan am Tag und in der Nacht Schüsse abgefeuert, teilte der zuständige Wehrbezirk der russischen Armee am Mittwoch der Agentur Interfax zufolge mit. Die Soldaten hätten zudem den Einsatz von Maschinengewehren auf bewegliche Ziele trainiert.
Russland hat in der Ex-Sowjetrepublik Tadschikistan seine grösste Auslandsmilitärbasis. Aussenminister Sergej Lawrow warnte einmal mehr, der Machtwechsel in Afghanistan könne sich auf die Sicherheitslage der Verbündeten in Zentralasien auswirken. Davon hänge auch die Sicherheit der südlichen Grenze Russlands ab.
In der Nacht zu Dienstag hatte das letzte US-Militärflugzeug den Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul verlassen. Russlands Präsident Wladimir Putin warf den USA vor, sie hätten während ihres 20 Jahre dauernden Militäreinsatzes nichts erreicht und nur Tragödien hinterlassen. «Das Ergebnis ist null, wenn nicht sogar negativ.»
10.01 Uhr
Warten auf Taliban-Regierung
Nach dem US-Truppenabzug aus Afghanistan lassen die militant-islamistischen Taliban mit einer Regierungsbildung weiter auf sich warten. Es gebe noch keine exakten Informationen über den Zeitpunkt, sagte Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid der Deutschen Presse-Agentur am Mittwoch. Auch ob Talibanführer Haibatullah Achundsada erstmals nach der Machtübernahme der Islamisten öffentlich auftreten werde, liess er offen. «Wir warten», so Mudschahid.
Unterdessen lieferten sich in der Nacht Widerstandskämpfer nahe dem Pandschirtal nach Angaben der Taliban erneut Gefechte mit den Islamisten. Die Provinz Pandschir ist die einzige von 34 Provinzen des Landes, die nach den Eroberungen der Taliban noch nicht unter Kontrolle der Islamisten steht. Verhandlungen hätten bisher keine «positiven Ergebnisse» gezeigt, sagte Mudschahid.
Kurz vor der Machtübernahme der Taliban war der bisher amtierende Präsident Aschraf Ghani außer Landes geflohen. Zuvor hatten die Taliban die meisten Städte und Provinzen nahezu kampflos erobert. Die militanten Islamisten beherrschten das Land bereits von 1996 bis 2001. Eine US-geführte Militärinvasion setzte ihrer Herrschaft nach den Anschlägen vom 11. September ein Ende. Nach rund zwei Jahrzehnten Militäreinsatz sind die Taliban wieder an der Macht.
9.11 Uhr
London spricht mit Taliban über Ausreise von Briten
Die britische Regierung verhandelt mit den militant-islamischen Taliban über eine sichere Ausreise von Briten und afghanischen Ortskräften aus Afghanistan. Der Sonderbeauftragte von Premierminister Boris Johnson, Simon Gass, sei zu Gesprächen mit führenden Vertretern der Taliban in die katarische Hauptstadt Doha gereist, sagte ein Regierungssprecher in London in der Nacht zu Mittwoch. Es gehe darum, «die Bedeutung einer sicheren Ausreise für britische Staatsangehörige und die Afghanen, die in den vergangenen 20 Jahren mit uns zusammengearbeitet haben, zu unterstreichen».
Zudem verstärkt das Aussenministerium vorübergehend seine Botschaften in den afghanischen Nachbarländern Pakistan, Usbekistan und Tadschikistan. Spezialisten sollen die Diplomaten dabei unterstützen, Menschen über Landgrenzen in Sicherheit zu bringen. Aussenminister Dominic Raab hatte am Dienstag gesagt, dass sich noch eine «niedrige dreistellige» Zahl an Briten in Afghanistan aufhalte.
Afghanen, die für das britische Militär sowie die britische Regierung gearbeitet haben, dürfen dauerhaft nach Grossbritannien ziehen. Das Innenministerium änderte seine Regeln für afghanische Ortskräfte und ihre Familien, die in ihrer Heimat unter der Taliban-Herrschaft nun in Gefahr sind. Bisher waren nur fünf Jahre Aufenthalt erlaubt. Nach Angaben von Raab hat die britische Regierung in den vergangenen zwei Wochen mehr als 17'000 Briten und Afghanen aus dem Krisenland ausgeflogen.
8.53 Uhr
Pentagon: «Haben keine Hunde zurückgelassen»
Das Pentagon hat Berichte dementiert, wonach die US-Armee bei ihrem Abzug aus Afghanistan mehrere Hunde am Kabuler Flughafen zurückgelassen hat. «Das US-Militär hat keine Hunde in Käfigen am internationalen Hamid-Karsai-Flughafen zurückgelassen, auch keine Militärhunde», schrieb Pentagon-Sprecher John Kirby am Dienstag im Onlinedienst Twitter. Auf Fotos, die in sozialen Medien gepostet wurden, seien Hunde in einem afghanischen Tierheim zu sehen und nicht Tiere, für die das US-Militär Verantwortung trage.
Die Tierrechtsorganisation Peta hatte unter Berufung auf «Insider-Quellen» berichtet, dass die US-Armee 60 Bombenspürhunde und 60 andere «Arbeitshunde» in Kabul zurückgelassen habe. Zudem seien im Zuge der Evakuierung von US-Familien aus Kabul dutzende Haustiere ausgesetzt worden. Die Tiere seien sich selbst überlassen und hätten auf den Strassen von Kabul nur geringe Überlebenschancen. Die NGO richtete einen Appell an US-Präsident Biden, sich für die zurückgelassenen Tiere einzusetzen.
To correct erroneous reports, the U.S. Military did not leave any dogs in cages at Hamid Karzai International Airport, including the reported military working dogs. Photos circulating online were animals under the care of the Kabul Small Animal Rescue, not dogs under our care.
Die USA hatten in der Nacht zum Dienstag (Ortszeit Kabul) ihren Truppenabzug aus Afghanistan abgeschlossen und ihren Militäreinsatz am Hindukusch damit nach 20 Jahren beendet. Mit dem Abflug der letzten US-Militärmaschine aus Kabul wurde auch die militärische Evakierungsmission abgeschlossen.
8.16 Uhr
UN-Generalsekretär warnt vor humanitärer Katastrophe
UN-Generalsekretär António Guterres hat nach dem Abzug der letzten US-Soldaten aus Afghanistan und dem Ende der Evakuierungsaktion vor dem völligen Zusammenbruch der Grundversorgung in dem Land gewarnt. «Eine humanitäre Katastrophe bahnt sich an», sagte Guterres am Dienstagabend (Ortszeit) in New York. Die Menschen verlören jeden Tag den Zugang zu elementaren Gütern und Dienstleistungen. «Fast die Hälfte der Bevölkerung Afghanistans – 18 Millionen Menschen – sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, um zu überleben. Jeder dritte Afghane weiss nicht, woher seine nächste Mahlzeit kommen wird. Mehr als die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren wird im nächsten Jahr voraussichtlich akut unterernährt sein.»
Guterres sagte, alle Mitgliedstaaten seien aufgefordert, «sich für die Menschen in Afghanistan in ihrer dunkelsten Stunde der Not einzusetzen». Sie sollten rechtzeitig, flexibel und umfassend Mittel bereitstellen. In der nächsten Woche würden Einzelheiten über den dringendsten humanitären Bedarf und den Finanzierungsbedarf für die nächsten vier Monate bekannt gegeben.
0.47 Uhr
Amerikaner halten Afghanistan-Einsatz für verfehlt
Eine grosse Mehrheit der Amerikaner hält den inzwischen beendeten Militäreinsatz der USA in Afghanistan einer Umfrage zufolge nicht für erfolgreich. 69 Prozent gaben an, dass die USA ihre Ziele in Afghanistan grösstenteils verfehlt hätten, wie das Institut Pew am Dienstag (Ortszeit) mitteilte. Kaum einen Unterschied gab es dabei zwischen Anhängern der Demokraten von US-Präsident Joe Biden (69 Prozent) und denen der Republikaner (70 Prozent). Klare Differenzen zeigten sich bei der Einschätzung des vollständigen US-Truppenabzugs aus Afghanistan: 70 Prozent der Demokraten befürworteten ihn, aber nur 34 Prozent der Republikaner.
Bidens Vorgänger, der Republikaner Donald Trump, wollte die US-Truppen schon zum 1. Mai aus Afghanistan abziehen. Biden verlängerte die Frist bis zum 31. August. Mitte August übernahmen die Taliban, deren Regime der US-geführte Einsatz Ende 2001 gestürzt hatte, wieder die Macht. Mit dem Abzug der letzten US-Soldaten vom Flughafen Kabul ging der internationale Afghanistan-Einsatz in der Nacht zu Dienstag schliesslich nach fast 20 Jahren zu Ende.
0.11 Uhr
Biden will Lehren aus Afghanistankrieg ziehen
US-Präsident Joe Biden hat Fehler im 20-jährigen Afghanistankrieg eingeräumt. Die USA hätten die Taliban 2001 vertrieben, weil diese den Terrorismus unterstützt hätten, sagte Biden am Dienstag. Danach habe man jedoch versucht, in Afghanistan demokratische Strukturen zu schaffen, die es dort noch nie gegeben habe. Für künftige US-Truppeneinsätze müssten klare und erreichbare Ziele definiert werden, die sich am Sicherheitsinteresse des Landes orientieren müssten.
Biden verteidigte den Truppenabzug. Bei seinem Amtsantritt im Januar seien die Taliban bereits in der stärksten Position seit 2001 gewesen. Er habe er vor der Wahl gestanden, sich an das von seinem Vorgänger Donald Trump mit den Taliban geschlossene Abzugsabkommen zu halten oder erneut Tausende Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan zu schicken.
«Ich glaube einfach nicht, dass die Sicherheit Amerikas verbessert wird, wenn weiter Tausende amerikanische Soldaten in Afghanistan stationiert werden und Milliarden von Dollar ausgegeben werden», sagte Biden. Deshalb habe er im April entschieden, die restlichen US-Truppen abzuziehen. Dabei habe er angenommen, dass die 300 000 Mann der afghanischen Armee sich gegen Taliban zur Wehr setzten würden. Doch diese Annahme habe sich als falsch erwiesen. Die Regierung sei geflohen.