Leere Regale in ApothekenViele Medikamente sind in Russland nicht mehr verfügbar
AP/tpfi
6.4.2022
Seit Beginn des Angriffskriegs in der Ukraine verzeichnen russische Kliniken und Apotheken gravierende Arzneimittel-Engpässe. Zunächst wurde dies auf Hamsterkäufe zurückgeführt. Doch einiges spricht dafür, dass die Versorgung dauerhaft gestört bleiben wird.
AP/tpfi
06.04.2022, 00:00
06.04.2022, 00:06
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Schon früh wurde in privaten Kreisen und in sozialen Medien gewarnt, dass wichtige Medikamente wegen der westlichen Sanktionen bald knapp werden könnten. Viele Menschen in Russland legten daraufhin offenbar Vorräte an. Wohl auch deswegen kam es tatsächlich schnell zu Engpässen. «Keine einzige Apotheke in der Stadt hat es im Moment», sagte eine Bewohnerin der Stadt Kasan Ende März über ein Blutverdünnungsmittel, das sie für ihren Vater benötigte.
Nach Darstellung der russischen Behörden sowie einiger Experten handelt es sich nur um ein temporäres Problem. Weil innerhalb von kurzer Zeit so ungewöhnlich grosse Mengen verkauft worden seien, müssten die Lieferanten noch logistische Schwierigkeiten in den Griff bekommen, heisst es. Einige Mediziner sind jedoch skeptisch – sie fürchten, dass immer mehr hochwertige Medikamente komplett vom russischen Markt verschwinden könnten.
Versorgungsprobleme werden andauern
«Höchstwahrscheinlich wird es Engpässe geben. Wie katastrophal es werden wird, das weiss ich nicht», sagt Alexej Erlich, Leiter der Herzintensivstation des Moskauer Krankenhauses Nr. 29 und Professor an der Universität Pirogow. Der Leiter einer Patientenrechtsgruppe in der Region Dagestan, Sijautdin Uwaysow, sagte der Nachrichtenagentur AP, er habe sich in mehreren örtlichen Apotheken persönlich nach der Verfügbarkeit der zehn gefragtesten Medikamente erkundigt – und «sie hatten nicht viele davon». Die Apotheker hätten ausserdem betont, dass unklar sei, wann die Lager wieder aufgefüllt werden könnten.
Dass die Regale wirklich nur leer sind, weil Kunden seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine Medikamente horten, erscheint zunehmend fraglich. Denn die Berichte über Versorgungsprobleme dauern an. Mitte März führte Vrachi.Rf, ein russisches Online-Netzwerk für Mediziner, eine Umfrage unter mehr als 3000 Ärzten durch. Den Ergebnissen zufolge reichten die Bestände an mehr als 80 wichtigen Medikamenten nicht mehr aus.
Russischer Gesundheitsminister verweist auf Panikkäufe
Ende März sagten etwa ein Dutzend von der AP kontaktierte Betroffene, sie hätten tagelang nach Arzneimitteln gesucht – nach bestimmten Schilddrüsenpräparaten oder Insulinarten, aber auch etwa nach beliebten schmerzlindernden Säften für Kinder. Einige beklagten, es sei ihnen bis heute nicht gelungen, die benötigten Mittel zu bekommen. «Patienten, die ich behandle, müssen auf einige Blutdruckmedikamente verzichten», sagt Erlich. Kollegen, die er kenne, hätten auch von Problemen bei sehr teuren, sehr wichtigen Mitteln für den Einsatz bei chirurgischen Eingriffen berichtet.
Der russische Gesundheitsminister Michail Muraschko hat mehrfach beteuert, der Medikamenten-Mangel sei allein durch Panikkäufe verursacht worden. Die Nachfrage nach bestimmten Mitteln sei in den vergangenen Wochen auf das Zehnfache gestiegen, betonte er. Er forderte seine Landsleute deswegen auf, Medikamente nicht weiter zu horten.
Lieferketten unterbrochen
Aus Sicht von Experten haben Hamsterkäufe bei den jüngsten Entwicklungen durchaus eine Rolle gespielt. «Die Leute haben schnell Vorräte angelegt. In einigen Fällen wurden Bestände, die für ein Jahr oder für eineinhalb Jahre vorgesehen waren, innerhalb von einem Monat aufgekauft», sagt Nikolai Bespalow von der russischen Consultingfirma RNC Pharma. Zu Beginn der Krise kamen seinen Angaben zufolge auch logistische Probleme hinzu.
Westliche Pharmaunternehmen hatten zwar zugesichert, lebensnotwendige Medikamente auch weiterhin zu liefern. Der Ausschluss wichtiger russischer Banken vom sogenannten Swift-System erschwerte aber internationale Zahlungen. Weil Dutzende Länder den Flugverkehr nach Russland einstellten, wurden Lieferketten unterbrochen. Laut Bespalow sind die logistischen Probleme inzwischen weitgehend gelöst. Wegen weiterer Hamsterkäufe könne die Lage aber noch eine Zeit lang angespannt bleiben, sagt er. «Bis sich die Emotionen beruhigen, wird es weitergehen.»
Lokale Nachrichtenportale in vielen Teilen des Landes – von der knapp östlich von Moskau gelegenen Stadt Wladimir bis hin zur sibirischen Region Kemerowo – berichteten auch in der vergangenen Woche über Medikamenten-Mangel und anhaltende Panikkäufe. Die russische Medizin-Aufsichtsbehörde Roszdrawnadsor dagegen erklärte am Freitag, die Situation auf dem Arzneimittelmarkt normalisiere sich allmählich und die Hamsterkäufe nähmen ab.
Dubiose Generika aus russischer Herstellung
Der Kardiologe Erlich betont derweil, dass die Bedingungen in Russland, das Schätzungen zufolge bis zu 40 Prozent der im Land benötigten Medikamente importiert, schon vor dem Krieg schwierig gewesen seien. Nach der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Jahr 2014 hatte Moskau als Reaktion auf westliche Sanktionen versucht, die heimische Produktion von Medikamenten zu fördern. Für ausländische Hersteller war es daraufhin nicht mehr profitabel, einige qualitativ hochwertige Mittel nach Russland zu liefern.
Ab 2015 wurden bei der staatlichen Beschaffung für Krankenhäuser, die bis zu 80 Prozent des russischen Marktes für pharmazeutische Produkte ausmacht, keine ausländischen Unternehmen mehr zugelassen, sobald sich mindestens zwei russische Anbieter um einen Vertrag bewarben. Die Regierung setzte zugleich Hunderte Mittel auf eine Liste von «lebensnotwendigen Medikamenten», für die sie feste, relativ niedrige Preise vorgab.
«Wir hatten nach und nach ohnehin schon ein wichtiges Original-Medikament nach dem anderen verloren. An deren Stelle treten Generika. Und während es da einige recht gute aus europäischer Produktion gibt, gibt es auch einige dubiose aus russischer Herstellung», sagt Erlich. «Natürlich, wenn es kein Original-Medikament gibt, ist ein Generikum besser als nichts», betont er. Aber die Messlatte werde damit gesenkt.