New York in der Krise Von Geisterhäusern und Gottvertrauen

Von Benno Schwinghammer und Christina Horsten, dpa/uri

30.4.2020

Die Millionenmetropole wird von der Pandemie hart getroffen – und geht damit ganz unterschiedlich um. Während die Einwohner reicher Gegenden New York grösstenteils verlassen haben, sind ärmere Viertel stark vom Virus betroffen. Sechs Orte – sechs Geschichten aus der Krise.

New York ist nicht gleich New York – vor allem nicht während der Corona-Pandemie. Bilder aus dem leeren Manhattan gingen um die Welt. Doch die Metropole hat mehr als nur ein Gesicht. Ein kleines Grossstadt-Mosaik über den Musiker am Meer, das Geisterhaus am East River, das leere Nobelviertel und das Lieblingsrestaurant der Bronx.

Der Akkordeonspieler von Coney Island

Die hölzernen Planken des Strandboulevards von Coney Island klappern unter den Füssen von Hunderten, die die Sonne am Ozean geniessen. Eigentlich erinnern nur die geschlossenen Fahrgeschäfte des berühmten Rummels und die heruntergelassenen Fensterläden der Fressbuden daran, dass hier – wo jährlich ein sehr beliebtes Hot-Dog-Wettessen veranstaltet wird – gerade eigentlich Ausnahmezustand ist.

Auf Distanz bleiben ist kaum möglich, das treibt den Puls und man zieht die selbstgenähte Gesichtsmaske straffer. Und dann dringen durch den Trubel die beruhigenden Klänge eines Akkordeons: Auf einer Bank sitzt ein Mann mit grauem Bart und schaut übers Meer – die Maske hängt um seinen Hals. Sein Name ist Nick, er ist 62 und in der Sowjetunion aufgewachsen, bevor er vor 25 Jahren nach New York kam.



Er lebt hier im Süden Brooklyns, wo so viele russische Zuwanderer ein Zuhause gefunden haben. Die Hydraulik-Fabrik, in der er arbeitet, hat ihren Betrieb eingestellt. «Ich weiss nicht, wie lange das anhält, aber bis jetzt zahlen sie weiter», sagt Nick. Er habe aber keine Angst, denn er erreiche in zwei Wochen eh das Rentenalter. Mit seinem Akkordeon wolle er den Leuten hier eine Freude bereiten. Für den Reporter aus Deutschland spielt er den Ententanz.

Die schicke Upper East Side ist schwarz wie die Nacht

Wenn man normalerweise abends die noble Park Avenue entlangspaziert, leuchten die Fenster der Luxus-Wohnungen auf beiden Strassenseiten. Menschen drehen noch schnell eine abendliche Runde mit ihren Hunden. Doormen, die die Eingänge der schicken Häuser bewachen, winken mit weiss behandschuhten Händen. In der Corona-Krise aber ist der edle Teil der Upper East Side leer, die Fenster der Häuser an der Park Avenue sind so gut wie alle schwarz.

Fast alle Menschen, die hier leben, haben noch mindestens ein zweites Anwesen, vielleicht am Strand oder mit grossem Garten, und verbringen die Krise dort. Auf der Halbinsel Long Island vor New York beispielsweise ist es derzeit deutlich voller als normalerweise zu dieser Jahreszeit. In der Stadt macht sich das auf verschiedene Arten bemerkbar: Die Stadtreinigung meldete, dass im März zehn Prozent weniger Müll von der Upper East Side abgeholt worden sei.

Das Lieblingsrestaurant der Bronx ernährt nun die Bedürftigen

Auf einem Tisch neben dem Eingang stehen rund ein Dutzend braune Papiertüten voller Äpfel. «Das ist schon für morgen», sagt Marco Saavedra. «Da geben wir wieder umsonst Essen aus für alle Bedürftigen hier in unserer Gemeinschaft.» Die Familie Saavedra stammt aus dem mexikanischen Oaxaca und betreibt seit vielen Jahren das bei Gästen beliebte und von Kritikern gefeierte Restaurant La Morada im Süden der Bronx. In der Corona-Krise gibt es in dem Lokal Essen nur noch als Lieferung und zum Abholen – und auch nur wenige Stunden lang an drei Tagen die Woche.



Den Rest der Zeit verbringt die Familie Saavedra damit, sich um die bedürftigen Menschen des Viertels zu kümmern. «Wir haben ein paar Zuschüsse bekommen, damit wir zu einer Art Suppenküche werden können.» Die Bronx gehört in der Corona-Krise zu den am schwersten betroffenen Gegenden New Yorks, hier leben viele ärmere Menschen und jene, die beispielsweise in Krankenhäusern, Supermärkten oder der Stadtverwaltung arbeiten. Zu Hause bleiben können ist in der Bronx ein Luxus, hier sind deutlich mehr Menschen auf den Strassen unterwegs als in reicheren Gegenden. «Es sind harte Zeiten. Noch geht es der Gesellschaft hier ganz OK, aber es gibt einfach nicht genug Ressourcen. Hoffentlich dauert das nicht mehr lange», so Saavedra. Eine Strassenecke weiter betet ein Mann vor einem Outdoor-Altar.

Die Vereinten Nationen – im Geisterhaus

Die Generalsekretäre starren ernst von ihren Gemälden, doch niemand schaut zurück im leeren Flur des UN-Hauptgebäudes. Während auf den Strassen wenigstens noch ein bisschen Betrieb herrscht, ist das 39-stöckige Gebäude am East River in Manhattan gerade nichts anderes als ein Geisterhaus. Nur ganz oben harrt Generalsekretär António Guterres noch mit einem engen Zirkel von Mitarbeitern aus.

Auf den Steinböden könnte man eine Sim-Karte fallen hören, die Rolltreppen stehen still, in einiger Entfernung verrät manchmal das Dröhnen eines Walkie Talkies, dass sich da irgendwo ein Wachmann durch den Tag langweilt. Erinnerungen an volle Flure, in denen man als Journalist Diplomaten nach Informationen zu den letzten Entwicklungen hinter verschlossener Tür fragen kann, sind nur noch ein entferntes Echo.

Die Gremien der Vereinten Nationen treffen sich nur noch digital, auch der Sicherheitsrat. Die Tür zum mächtigsten UN-Gremium ist verschlossen. Durch den Spalt schimmert das Sonnenlicht unter den schweren Vorhängen. Kritiker würden wohl sagen, dass sich im oft gespaltenen Rat dieser Tage genauso wenig bewegt wie sonst auch.

Das «Furchtlose Mädchen» trägt Maske

Vielleicht hat sie – zurecht – doch ein bisschen Angst. Stolz und mit den Fäusten in der Hüfte steht das «Furchtlose Mädchen» an der Wall Street und schaut seit 2018 hoch zur berühmten Börse, vor der eine riesige US-Flagge hängt. Sie ist etwa 1,20 Meter gross, aus Bronze und soll auf den positiven Einfluss von Frauen in Führungspositionen aufmerksam machen. Dieser Tage trägt auch sie eine Atemmaske.

Das «Furchtlose Mädchen» an der Wall Street.
Das «Furchtlose Mädchen» an der Wall Street.
Bild: Keystone

Ob sie sie braucht, ist nicht ganz klar: Den gebotenen Mindestabstand hier im verlassenen Downtown Manhattan einzuhalten, ist derzeit ein Kinderspiel. Und das selbst im Gebäude, denn das berühmte Handelsparkett an der Wall Street ist dieser Tage leer – die Börse hat umgestellt auf elektronischen Handel.

Gottvertrauen vorm Krankenhaus

Es war Ende März, als das Elmhurst Hospital Center zum Symbol für die New Yorker Pandemie wurde. Während vor der Klinik im besonders diversen Stadtteil Queens Menschen Schlange standen, um sich testen zu lassen, starben drinnen reihenweise Menschen, die zuvor mit Sirenengeheul in die Notaufnahme gebracht wurden.

Heute jagt die Szenerie vor dem Krankenhaus einem keinen Schauer mehr über den Rücken, eher eine wohlige Wärme. Aus dem Fenster schauen Ärzte und Pfleger auf grosse Buchstaben auf der anderen Strassenseite. «THANK YOU» steht da – und Leute haben Botschaften auf die Letter geschrieben: «Wir werden siegen» oder «Danke für alles, was ihr tut».

Die Lautsprecher eines Autos beschallen die Strasse mit spanischen Balladen. Der Mann auf dem Fahrersitz stellt sich als Jean-Luc vor. Er spricht kein Englisch, aber er tippt auf Spanisch «Ich bete zu Gott» in sein Handy. Für die Patienten drinnen. Auf den Fenstern seines Wagens steht in weisser Farbe: «Alles wird gut».

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