Wahlen in der Türkei Wahlen in der Türkei: Wer bekommt die «Osmanische Ohrfeige»?

Can Merey, dpa

18.6.2018

Ein Selbstläufer werden die Wahlen in der Türkei für Präsident Erdogan und seine AKP nicht, glaubt man den Umfragen. Die Opposition sieht sich im Aufwind. Wankt Erdogan? Und was dann?

Die «Osmanische Ohrfeige» war eine sagenumwobene Nahkampftaktik von Soldaten des osmanischen Heeres, der Schlag mit der flachen Hand soll einst Menschen und sogar Pferde ausser Gefecht gesetzt haben. Geht es nach Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, soll bei der Präsidenten- und Parlamentswahl am kommenden Sonntag das Volk der Opposition die verheerende Klatsche verpassen.

«Sind wir bereit, ihnen am 24. Juni so eine Osmanische Ohrfeige zu geben?», fragte er in einer Wahlkampfrede vor jubelnden Zuhörern. «Dafür werden wir hart arbeiten. Kein Zurücklehnen, kein Innehalten!»

Ob das reichen wird? Erdogan absolviert mehrere Auftritte täglich, sein Wahlkampf wirkt verglichen mit früher aber kraft- und einfallslos. Immer dieselben Phrasen, immer dasselbe Eigenlob: Seine Regierung habe Brücken und Flughäfen, Strassen und Krankenhäuser gebaut. Die Opposition sei ein «Zerstörungsteam». Der Jubel des oftmals herangekarrten Publikums wirkt gelegentlich eher pflichtbewusst. Vom Enthusiasmus früherer Wahlen ist wenig zu spüren, was nicht nur am kürzlich beendeten Fastenmonat Ramadan liegen dürfte.

«Metallermüdung»?

Die Opposition wittert dagegen erstmals seit Jahren Morgenluft. Der Präsidentschaftskandidat der grössten Oppositionspartei CHP, Muharrem Ince, kann Erdogan rhetorisch das Wasser reichen und begeistert Zuhörer mit seiner Schlagfertigkeit. Nach mehr als 15 Jahren Erdogan steht Ince für einen Neuanfang. «Ein müder Mann kann die grossen Probleme der Türkei nicht lösen», rief er kürzlich. «Es braucht frisches Blut, frisches Blut!» Tatsächlich wirkt Erdogan in diesem Wahlkampf manchmal, als leide er unter dem Phänomen, das er selber Teilen seiner AKP attestiert hat: «Metallermüdung».

Erdogan wird bei der Präsidentenwahl am Sonntag unter den sechs Kandidaten die meisten Stimmen gewinnen, daran lassen Umfragen keinen Zweifel. Offen ist aber, ob er am 8. Juli in die Stichwahl muss - die AKP bereitet sich darauf vor. Der Gegenkandidat hiesse dann wohl Ince, er könnte auf die Stimmen von Erdogan-Gegnern auch aus anderen Lagern als dem der kemalistischen CHP setzen.

Aus Sicht von Erdogans Gegnern könnte es die letzte Chance sein, die von ihnen befürchtete «Ein-Mann-Herrschaft» zu verhindern. Schon jetzt ist nicht nur die EU hochgradig besorgt über die Lage in der Türkei: Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 liess die Regierung Zehntausende Menschen inhaftieren oder aus dem Staatsdienst entfernen. Die meisten Medien stehen unter direkter oder indirekter Kontrolle der Regierung. Journalisten und Oppositionelle wurden unter fragwürdigen Terrorvorwürfen inhaftiert. Bis heute gilt der nach dem Putschversuch verhängte Ausnahmezustand, unter dem Erdogan per Dekret regiert - und unter dem nun gewählt werden wird.

Spätestens in der Stichwahl würde Erdogan vermutlich gewinnen, doch eine zweite Wahlrunde könnte neue Dynamiken freisetzen. Erdogans Nimbus der Unschlagbarkeit wäre angekratzt. Für die Opposition wäre es schon ein grosser Erfolg, würde sie ihn in die Stichwahl zwingen.

Wackelt der Präsident?

Und womöglich sitzt Erdogan nicht ganz so fest im Sattel, wie er selber stets glauben macht. Beim Verfassungsreferendum über sein Präsidialsystem im vergangenen Jahr holte er nur eine dünne Mehrheit, die noch dazu hochumstritten war: Die Opposition witterte Wahlbetrug. Die grössten Städte des Landes stimmten mehrheitlich gegen die Verfassungsreform, die dem Präsidenten viel mehr Macht gibt und die mit den bevorstehenden Wahlen abgeschlossen wird. Schon bei der Präsidentenwahl 2014 gewann Erdogan die erste Runde nur knapp.

Diese Ergebnisse zeigen auch, wie tief Erdogan das Land gespalten hat: Etwa die Hälfte der Türken unterstützt ihn, oft bedingungslos. Die andere Hälfte lehnt ihn aus ganzem Herzen ab, dazwischen gibt es nichts. Ince kündigt an, diese Spaltung überwinden und ein Präsident für alle sein zu wollen. «Wir werden nicht darauf achten, ob jemand Kopftuch trägt oder nicht», sagt er. «Wir werden uns nicht darum kümmern, ob jemand Miniröcke trägt. Uns wird nicht interessieren, ob jemand Kurde oder Türke ist oder welche Konfession er hat.»

Der Ausnahmepolitiker Erdogan, der sich bislang stets durchgesetzt hat und sogar aus dem Putschversuch 2016 gestärkt hervorging, hat diesmal Fehler gemacht. Einer der schwerwiegendsten dürfte eine Gesetzesreform gewesen sein, die nun erstmals Bündnisse von Parteien bei der gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahl erlaubt. Erdogan hat dem Verbündeten seiner AKP, der ultranationalistischen MHP, damit den Wiedereinzug ins Parlament garantiert: Wenn das Bündnis insgesamt ausreichend Stimmen hat, um über die Zehn-Prozent-Hürde zu kommen, sind alle darin vertretenen Parteien im Parlament.

Vereint gegen Erdogan

Erdogan dürfte allerdings kaum damit gerechnet haben, dass sich die sonst zerstrittene Opposition zusammenrauft. Sie rief ebenfalls ein Bündnis ins Leben, das ungleiche Partner zusammenbrachte. Dort haben im Wesentlichen Kemalisten (CHP), Nationalisten (Iyi-Partei) und Islamisten (Saadet-Partei) zusammengefunden, die zwar jeweils eigene Präsidentschaftskandidaten stellen, die aber ihre Gegnerschaft zu Erdogan eint.

Nicht im Bündnis ist die pro-kurdische HDP, die mit ihrem inhaftierten Ex-Chef Selahattin Demirtas auch einen eigenen Präsidentschaftskandidaten stellt. Dem Erdogan-Gegner werden keine Chancen auf die Stichwahl vorhergesagt. Viele seiner Anhänger dürften in einer zweiten Runde Ince wählen, Erdogan jedenfalls sicher nicht.

Auch das Vorziehen der «historischen Wahl» (Erdogan) um fast eineinhalb Jahre war womöglich keine gute Idee. Wenn das Ziel war, die Opposition zu überrumpeln, hat das nicht funktioniert. Hintergrund des ungewöhnlichen Schrittes - mit dem der Wahlkampf weitgehend in den Ramadan gelegt wurde - dürfte die Sorge gewesen sein, dass sich die wirtschaftliche Lage bis zum ursprünglichen Wahltermin im November 2019 noch weiter verschlechtert.

Der dramatische Wertverlust der Lira in den vergangenen Monaten und die hohe Inflation haben aber schon jetzt dazu geführt, dass die Wirtschaft für die meisten Wähler das dominierende Thema ist. Lösungen hat Erdogan kaum zu bieten, sieht man davon ab, dass er die Bevölkerung dazu aufrief, ersparte Devisen in Lira umzutauschen. Stattdessen verspricht er neue Stadien, Parks und Volkskaffeehäuser, in denen Kaffee, Tee und Kuchen rund um die Uhr gratis sein sollen.

Parlamentswahl könnte ihm zum Problem werden

Selbst wenn Erdogan die Präsidentenwahl am Ende wie erwartet gewinnt, könnte ihm ein neues Problem drohen: Bei der zeitgleichen Parlamentswahl könnte seine AKP die absolute Mehrheit verlieren, wenn die HDP die Zehn-Prozent-Hürde überwindet. Auch das wäre für die Opposition ein gigantischer Erfolg, der die Türkei allerdings lähmen könnte: Erdogans Präsidialsystem ist nicht darauf ausgelegt, dass die Opposition - die das System wieder abschaffen will - das Parlament kontrolliert. Der Präsident kann künftig zwar per Dekret regieren, das Parlament kann die Dekrete aber per Gesetz wieder aushebeln.

Erdogans Lager gibt sich natürlich trotzdem gewohnt siegessicher - bislang ist es ja noch immer gut gegangen. AKP-Innenminister Süleyman Soylu sagt: «Ich glaube daran, dass es am Sonntagabend in allen Städten der Vernachlässigten und Unterdrückten Freudenschreie geben wird.» Freudenschreie, da hat Soylu recht, wird es am Wahlabend sicherlich geben. Die Frage ist, von welcher Seite sie kommen werden.

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