EU-Parlament in Strassburg«Wanderzirkus» ins Risikogebiet
Von Lennart Stock und Julia Naue, dpa
5.10.2020
Seit Februar war das Europarlament nicht mehr an seinem Hauptsitz im französischen Strassburg. Wegen Corona. Nun schlägt Frankreichs Präsident Macron Alarm.
Es war ein monatliches Ritual: Koffer werden gepackt, Lastwagen mit Akten beladen und alles sonst auf Reisen geschickt, was die 705 Abgeordneten des Europäischen Parlaments für eine Sitzungswoche am Hauptsitz in Strassburg benötigen. Dann geht es für Hunderte Parlamentarier, Mitarbeiter, Journalisten und Dolmetscher von Brüssel ins Elsass. Doch Corona hat auch diese Routine gestoppt. Und für neuen Zoff in einem alten Streit gesorgt.
Der Parlamentssitz im Elsass ist vor allem Frankreich heilig, und Paris kann auf eine Festlegung in den EU-Verträgen pochen. Die Regierungen der EU-Staaten einigten sich 1992 einstimmig darauf, die Sitze der EU-Organe dauerhaft festzulegen. Der Hauptsitz des Parlaments ist Strassburg, in Brüssel kommen vor allem Ausschüsse zusammen und in Luxemburg sitzt die Verwaltung. Für eine Änderung der EU-Verträge wäre erneut die Zustimmung von allen EU-Staaten nötig.
Macron fürchtet gefährlichen Präzedenzfall
Kritiker geisseln den monatlichen «Wanderzirkus» indes als Umweltlast und Geldverschwendung. Denn auch in Brüssel ist ein voll ausgestatteter Plenarsaal vorhanden und drei Wochen im Monat arbeiten die Parlamentarier in der belgischen Hauptstadt. Eine Mehrheit im Parlament ist seit jeher dafür, sich für nur noch einen Sitz zu entscheiden - vorzugsweise Brüssel. Und weil das so ist, befürchtet Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nun einen gefährlichen Präzedenzfall.
Der Plenarsaal im Elsass ist seit Februar verwaist. Da die Region Grand Est rund um Strassburg damals besonders von der Corona-Pandemie betroffen war, wurden alle Reisen der Parlamentarier abgesagt. Zwischenzeitlich wurde in der Strassburger Parlaments-Kantine sogar ein mobiles Corona-Screening-Zentrum eingerichtet. Die Abgeordneten tagten stattdessen in Brüssel, im Notbetrieb und teilweise online.
Eigentlich sollte schon die erste Sitzung nach der Sommerpause im September wieder in Strassburg sein, dann zumindest die erste Oktober-Sitzung diese Woche. Doch Parlamentspräsident David Sassoli sagte beides ab: «Strassburg, der Sitz des Europäischen Parlaments, liegt uns sehr am Herzen», schrieb er an die Abgeordneten. Steigende Infektionszahlen machten eine Rückkehr aber aktuell unmöglich. Daher werde man erneut in Brüssel tagen.
Belgien erklärte Département zur roten Zone
Tatsächlich war im Département Bas-Rhin, in dem die Elsass-Metropole Strassburg liegt, die Schwelle von 50 Neuinfektionen pro 100'000 Einwohnern zuletzt überschritten worden. Belgien erklärte das Département zur roten Zone. Demnach müssten sich alle Strassburg-Reisenden bei Rückkehr in Quarantäne begeben. Nur steigen die Fallzahlen eben auch in Brüssel.
Frankreichs Präsident Macron besteht daher auf eine sofortige Rückkehr der Abgeordneten. Mit deutlichen Worten wandte er sich in einem Brief vergangene Woche a
n Sassoli: «Gemeinsam müssen wir weiter daran arbeiten, Strassburg (...) zu einer Hauptstadt der Demokratie und der europäischen Werte zu machen.» Und er forderte, dass es für die Brüsseler Sitzungen eine Art Ausgleich geben muss – etwa längere Sitzungen in Strassburg.
Jens Geier, Mitglied der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, findet es dagegen richtig, erneut auf die Strassburg-Reise zu verzichten: «Auch Europapolitikerinnen und Europapolitiker sollten in Pandemie-Zeiten Reisen vermeiden, die nicht unbedingt nötig sind.» Neben den Abgeordneten wären auch zahlreiche Mitarbeiter, die meist in Brüssel wohnten, einem zusätzlichen Risiko ausgesetzt. Und: «Gibt es Quarantäne-Fälle, explodieren die Reisekosten weiter, weil wir die Quarantäne dann voraussichtlich in Hotelzimmern verbringen müssten.»
Alte Grundsatzdebatte
Damit bringt die Pandemie die alte Grundsatzdebatte in Fahrt. 2018 und 2019 wurden pro Sitzung rund 1'300 Kisten mit Büromaterial in 5 Lastwagen zwischen Strassburg und Brüssel hin und her gefahren. Dabei wurde die Zahl der Transportkisten und damit auch die der Lkws seit 2015 schon um 30 Prozent reduziert, wie das Parlament auf Anfrage mitteilt. Der EU-Rechnungshof kam 2014 zu dem Ergebnis, dass jährlich mehr als 110 Millionen Euro durch einen Umzug gespart werden könnten.
«Populisten und Euro-Skeptikern wird damit billige Munition geliefert», klagt der SPD-Abgeordnete Geier. Die Aufteilung der Parlamentsarbeit auf die beiden Standorte sei ineffizient. «Die Mehrkosten, der Zeitverlust und die Umweltbelastung durch die monatlichen Reisen zwischen Belgien und Frankreich sind den Menschen nicht zu vermitteln.»
In Strassburg fürchten viele Corona-geplagte Hoteliers und Gastronomen hingegen weitere Einbussen. Und der Präsident des Département-Rats von Bas-Rhin, Frédéric Bierry, verweist darauf, dass die Gesundheitssituation in Brüssel ebenso schwierig sei wie in Strassburg. «Wieder einmal werden die Verträge missachtet und die Demokratie wird nicht geachtet», sagt Bierry. Der Sitz in Strassburg sei bedroht – und auch der Ruf der Stadt, das Image des Elsass und die Wirtschaft.
«Nach Paris ist Strassburg das zweitwichtigste Zentrum der Diplomatie in Frankreich», heisst es auf der Webseite der Stadt. Ob Corona das auf Dauer in Frage stellt, ist offen. Macron aber wird kämpfen.
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