Warnung oder Übung? Moskau und London streiten über britisches Kriegsschiff

dpa/toko

24.6.2021 - 21:03

Hat Russland im Schwarzen Meer gezielt Schüsse und Bomben gegen ein britisches Schiff eingesetzt? Während London die eskalierte Situation weiter mit einer Militärübung erklärt, zeichnen Medienberichte zunehmend ein Bild, das die russische Darstellung stützt.

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Ohrenbetäubend dröhnen Kampfjets im Minutentakt über Deck, von der Seite knallen Schüsse der russischen Küstenwache: Es sind eindrückliche Szenen, die ein Reporter an Bord des britischen Zerstörers «HMS Defender» schildert. Auf der Brücke schlüpft die Besatzung in feuerabweisende Schutzkleidung, Abwehrsysteme werden in Stellung gebracht. Der Bericht der «Daily Mail» vom Donnerstag legt nahe, dass russische Angaben über Warnschüsse und Bombenabwürfe stimmen dürften, mit denen die «Defender» vor der Halbinsel Krim im Schwarzen Meer vertrieben worden sein soll.



Doch die britische Regierung beharrt auf ihrer Position: Das Schiff habe sich an internationales Recht gehalten und sei dem direkten Kurs Richtung Georgien gefolgt. Warnschüsse? Gab es demnach nicht. Es habe sich lediglich um eine russische Militärübung gehandelt, betonte Kabinettsmitglied George Eustice im Sender Sky News. Dies komme in der Region um die von Russland annektierte ukrainische Halbinsel Krim häufiger vor, Moskau habe vorab darüber informiert. Premierminister Boris Johnson lästerte, Russland wolle allen einen Bären aufbinden.

Kräftemessen

Die Berichte britischer Medien – auch ein BBC-Reporter ist an Bord der «Defender» – legen allerdings eine andere Sicht nahe. So habe Kapitän Vincent Owen seiner Crew deutlich gemacht, dass es darum gehe, internationales Recht durchzusetzen, man sei also absichtlich durch die von Russland beanspruchte Zone gefahren, berichtete die «Mail». Demnach handelte es sich um eine Art Kräftemessen. Als zwei russische Schiffe versuchten, die «Defender» abzudrängen, habe Owen amüsiert bemerkt: «Wir hängen sie ab.» Dass dies zutrifft, lässt sich aus Johnsons Bemerkungen durchaus ableiten. «Es war absolut richtig, das Gesetz zu verteidigen und die Freiheit der Schifffahrt durchzusetzen, in der Weise, wie wir es getan haben», sagte der Premier.

Im Zentrum des Zwischenfalls im Schwarzen Meer steht der britische Zerstörer «Defender».
Im Zentrum des Zwischenfalls im Schwarzen Meer steht der britische Zerstörer «Defender».
Ukrinform/dpa

Hintergrund der beispiellosen Konfrontation im Schwarzen Meer ist der Ukraine-Konflikt. Die Einverleibung der Krim durch Russland 2014 wird international als illegal eingestuft, völkerrechtlich gehört das Gebiet zur Ukraine – darauf beruft sich auch die Royal Navy. Die «Defender» hatte zuvor im ukrainischen Hafen Odessa Halt gemacht und an Übungen mit amerikanischen und ukrainischen Kräften teilgenommen. Dagegen beharrt Moskau, das die Halbinsel zu einer militärischen Bastion ausgebaut hat, darauf, dass die Krim zu Russland gehört.

«Der Unwillkommene», titelte die russische Regierungszeitung «Rossijskaja Gaseta» am Donnerstag und zeigte dazu ein Foto des britischen Zerstörers, der unerlaubt «unsere Gewässer» befahren habe. Die Zeitung «Kommersant» machte die erhöhte Nato-Präsenz im Schwarzen Meer für die Eskalation der Lage verantwortlich.

Zeitpunkt des Zwischenfalls ist brisant

Moskau werde seine territoriale Integrität notfalls auch militärisch verteidigen, sagte Vize-Aussenminister Sergej Rjabkow der Agentur Interfax zufolge. Russland warne alle Staaten vor Grenzverletzungen und «ähnlichen provozierenden Schritten». Man könne zwar an den gesunden Menschenverstand und an die Achtung internationalen Rechts appellieren, sagte Rjabkow. «Aber wenn das nicht hilft, können wir bombardieren – nicht nur den Kurs, sondern auch Ziele, wenn die Kollegen nicht verstehen.»

Moskau bleibt also bei seiner Position – und den schweren Vorwürfen in Richtung London: Die «Defender» sei unerlaubt in russisches Hoheitsgewässer eingedrungen und habe erst nach den Schüssen den Kurs geändert. Kremlsprecher Dmitri Peskow warf den Briten eine «bewusste und vorbereitete Provokation» vor. Der Vorfall könne «ernsthafteste Folgen» haben, legte das Aussenministerium nach. Der britischen Botschafterin in Moskau sei eine scharfe Protestnote übergeben worden.

Der Zeitpunkt des Zwischenfalls ist brisant. Russland empfindet das bevorstehende internationale Manöver «Sea Breeze» (Meeresbrise) als Provokation. Tausende Soldaten sowie Dutzende Schiffe und Flugzeuge aus 32 Ländern trainieren vom kommenden Montag an gemeinsam im Schwarzen Meer. Russland fordert, auf das Manöver zu verzichten. Der gegen den britischen Zerstörer gerichtete Beschuss wurde in der Ukraine deshalb auch als möglicher Versuch gewertet, die Übung noch zu verhindern.

Beziehungen seit Jahren belastet

Die Besorgnis in Grossbritannien gross. Der frühere Armeechef Richard Dannatt sagte bei Sky News, Präsident Wladimir Putin wolle die Entschlossenheit des Westens testen. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Parlament, Tom Tugendhat, nannte das russische Vorgehen kriminell. «Sie sind wie Gorillas, die sich auf die Brust klopfen und vorgeben, etwas zu tun», spottete Tugendhat.

Die Beziehungen zwischen London und Moskau sind seit Jahren stark belastet. So wirft die britische Regierung der russischen vor, sie sei verantwortlich für die tödliche Vergiftung des Ex-Spions Alexander Litwinenko in London 2006 sowie für den Giftanschlag auf den früheren Doppelagenten Sergej Skripal und dessen Tochter in Salisbury 2018. Moskau weist die Anschuldigungen zurück.

Wie sich die Beziehungen nun entwickeln, bleibt abzuwarten. Seit dem Brexit meldet sich die britische Regierung vehement bei Menschenrechtsverletzungen zu Wort, kritisierte lautstark die Inhaftierung des Kremlkritikers Alexej Nawalny. Direkten Kontakt zwischen Moskau und London gibt es offenbar kaum.

Beide Seiten zeigen sich allerdings bereit, das zu ändern. Der Chef des russischen Auslandsgeheimdiensts SWR, Sergej Naryschkin, sagte, er stehe für Gespräche mit dem britischen Geheimdienst MI6 zur Verfügung und habe bereits dessen Chef Richard Moore geschrieben. Und der britische Verteidigungsminister Ben Wallace sagte nach Putins Treffen mit US-Präsident Joe Biden, auch ein Gipfel des Kremlchefs mit Johnson sei möglich. Doch dafür müsse Russland erst einmal seine «bösartigen Aktivitäten» gegen Grossbritannien und dessen Verbündete beenden.