Fragen und Antworten Ist der Gas-Lieferstopp nach Polen und Bulgarien erst der Anfang?

Von Oliver Kohlmaier

27.4.2022

Von der Quelle bis zum Einsatzort legt das Erdgas in der Pipeline Jamal mehrere tausend Kilometer zurück. Nun hat Russland Polen und Bulgarien den Gashahn abgedreht. 
Von der Quelle bis zum Einsatzort legt das Erdgas in der Pipeline Jamal mehrere tausend Kilometer zurück. Nun hat Russland Polen und Bulgarien den Gashahn abgedreht. 
KEYSTONE/DPA/Patrick Pleul (Symbolbild)

Moskau dreht Polen und Bulgarien den Gashahn zu und droht anderen Ländern dasselbe an. Gerät damit ein Stein ins Rollen? Ist ein kompletter Verzicht auf russisches Gas zu stemmen? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Oliver Kohlmaier

27.4.2022

«Der Hahn wurde abgedreht.» Mit diesen lapidaren Worten bestätigte Polens Klimaministerin Anna Moskwa am Mittwochmorgen im polnischen Radio den Erdgas-Lieferstopp aus Russland.

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine geht in vielen Ländern Europas die Sorge um, Putin könne die Gaslieferungen einstellen und damit — dank der Abhängigkeit von selbigen — die Volkswirtschaften in eine schwere Krise stürzen.

Ist der Lieferstopp Russlands an Polen und Bulgarien nur der Anfang? Die Antworten auf die wichtigsten Fragen:

Was ist passiert?

Im Gasstreit zwischen Russland und dem Westen stellt der Staatskonzern Gazprom seine Lieferungen nach Polen und Bulgarien ein. Der russische Konzern bestätigte den Lieferstopp, weil die Unternehmen PGNiG und Bulgargaz angeblich nicht rechtzeitig in Rubel gezahlt hätten. Sofia und Warschau betonten dagegen, ihre Verpflichtungen erfüllt zu haben. 

Gazprom warnte die beiden Länder zudem, russisches Gas anzuzapfen, das über ihr Gebiet an andere Länder geliefert wird: «Wenn sie unerlaubt russisches Gas aus den Transitmengen für Drittländer entnehmen, werden die Transitlieferungen in dieser Höhe gesenkt.»

Gazprom stoppt Gaslieferungen nach Polen und Bulgarien

Gazprom stoppt Gaslieferungen nach Polen und Bulgarien

Arctic Der russische Staatskonzern Gazprom stoppt seine Gaslieferungen nach Polen und Bulgarien.

27.04.2022

Über die Jamal-Pipeline fliesst normalerweise Gas über Tausende Kilometer von Russland über Belarus nach Polen und bis ins brandenburgische Mallnow, wo das Gas übernommen und Richtung Westeuropa weitergeleitet wird. Allerdings hat die Bedeutung der Verbindung abgenommen.

Hintergrund des Gaskonfliktes mit Russland ist ein Streit über die Zahlungsmodalitäten. Kremlchef Wladimir Putin hatte im März gefordert, dass westliche Staaten mit Wirkung zum 1. April Konten bei der Gazprombank eröffnen müssen, um Lieferungen zu bezahlen. Andernfalls würden sie für «unfreundliche» Länder eingestellt.

Nach einem von Putin unterzeichneten Dekret können die Zahlungen weiter in Euro oder Dollar auf das russische Konto eingezahlt werden. Die Gazprombank konvertiert das Geld in Rubel und überweist den Betrag in der russischen Währung an Gazprom.

Es ist jedoch zweifelhaft, ob der Massnahme Russlands Zahlungs- oder sonstige Modalitäten zugrunde liegen. Vielmehr steht zu vermuten, dass Putin damit ein Signal an den Westen senden oder sich für Sanktionen revanchieren will. 

«Ich vermute, das ist ein erster Testballon seitens Russland», schreibt Hannes Weigt, Professor für Energieökonomie an der Uni Basel auf Anfrage von blue News. Bei einer weiteren Verschärfung wären allerdings die Kosten auch für Russland «sehr hoch».

Am Mittwoch kommen indessen neue, unverhohlene Drohungen aus Moskau. So forderte zunächst der Präsident der Duma, dass Gazprom auch anderen Ländern, die Russland sanktionieren, den Gashahn abdrehen soll.

Auch aus dem Kreml selbst kam die Warnung vor ähnlichen Schritten, sollten die Zahlungen beim Staatskonzern Gazprom nicht in Rubel eingehen. Ein entsprechendes Dekret von Präsident Wladimir Putin werde umgesetzt, sagte sein Sprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge.

Was bedeutet das für Polen und Bulgarien?

Seit den ersten Tagen des Ukraine-Krieges hat Warschau erklärt, dass es für eine vollständige Unabhängigkeit von russischen Rohstoffen bereit sei. Im Gegensatz zu anderen EU-Ländern, vor allem Deutschland, war Polen jedoch nie massgeblich auf russisches Erdgas angewiesen. Der Anteil betrug zuletzt unter zehn Prozent.

Was die Versorgungssicherheit betrifft, gibt man sich in Polen daher auch gelassen. Aus der Regierung heisst es, die Auswirkungen der russischen Entscheidung auf das eigene Land seien gering. Politisch jedoch kamen aus Warschau scharfe Worte. 

Regierungschef Mateusz Morawiecki bezeichnete die Einstellung russischer Gaslieferungen an Polen als «direkten Angriff» auf sein Land. «Diesmal hat Russland die Grenze des Imperialismus, des Gasimperialismus, noch einen Schritt weiter verschoben», sagte er am Mittwoch im Parlament in Warschau. Sein Land werde dank seiner ausreichenden Gasreserven «dieser Erpressung» nicht nachgeben.

Etwas anders sieht es hingegen in Bulgarien aus. Nach eigenen Angaben war das Land zwar auf diesen Schritt aus Russland vorbereitet. Dennoch ist das ärmste EU-Land noch immer fast komplett von Gaslieferungen aus Russland abhängig. Ein Anschluss an das Netz des benachbarten Griechenlands soll im Juni fertig sein. Bulgarien will damit Erdgas auch aus anderen Ländern beziehen.

Werden weitere Länder folgen?

Niemand kann das beantworten. Putin stellt seine Unberechenbarkeit aller Welt zur Schau und beweist gerade mit der Invasion in der Ukraine, dass er bereit ist, auch extreme Risiken einzugehen und gegen eigene Interessen zu handeln. 

Auch Fachleute haben keine Glaskugel. Ob der russische Lieferstopp einen Stein ins Rollen gebracht hat, will daher auch der renommierte Experte für Energiewirtschaft, Dominik Möst, nicht sagen.

Man könne nicht in die «Köpfe der Entscheider schauen», schreibt Möst auf Anfrage von blue News und fügt hinzu: «Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass damit eine Abschaltung der Lieferungen nicht unwahrscheinlicher wird.»

Nach Ansicht des Energieexperten Simone Tagliapietra vom Brüsseler Wirtschaftsinstitut Bruegel ist der Lieferstopp ein Wendepunkt in den Energiebeziehungen zu Russland. «Und sie könnte ein Vorgeschmack auf ähnliche Schritte gegen andere europäische Länder in den kommenden Wochen sein.» Die europäischen Regierungen müssten Notfallmassnahmen ergreifen, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. «Jede Milliarde Kubikmeter Gas, die nicht verbraucht wird, ist jetzt wichtig.»

Vor allem in Deutschland, der grössten europäischen Volkswirtschaft, treibt der russische Warnschuss den Poltiker*innen die Schweissperlen auf die Stirn. Eine Sprecherin von Wirtschaftsminister Robert Habeck sagte zwar, die Gasflüsse seien «zum jetzigen Zeitpunkt alles in allem auf einem stabilen Niveau.» 

«Wir sehen aber mit Sorge, dass es in europäischen Partnerländern zum Stopp der Lieferungen gekommen ist.» Die deutsche Bundesregierung hatte schon zuvor wegen der Abhängigkeit von russischem Gas vor schweren wirtschaftlichen Schäden gewarnt, sollten die Lieferungen ausbleiben.

Aus diesem Grund stemmen sich die Deutschen mit aller Kraft gegen ein westliches Embargo —und stossen damit auch Verbündete vor den Kopf.

Die meisten Expert*innen gehen davon aus, dass Deutschland in eine Rezession rutschen würde, wenn die russischen Gaslieferungen ausbleiben. Im vergangenen Jahr bezog Deutschland 55 Prozent seines Erdgases aus Russland. 

Auf die Schweiz hätte ein Erdgas-Lieferstopp zwar kaum direkte, dafür aber  indirekte Auswirkungen wegen der starken Vernetzung mit den umliegenden Volkswirtschaften.

Hannes Weigt erklärt: «Ein Lieferstopp für Deutschland wird sicher die grössten Verwerfungen erzeugen, wahrscheinlich mit entsprechenden Rückwirkungen für die Schweiz».

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigte sich am Mittwoch kämpferisch. Der Schritt sei ein «weiterer Versuch Russlands, Gas als Erpressungsinstrument einzusetzen». Man sei auf eine solche Lage vorbereitet.

Ob man sich auf eine solche «Lage» vorbereiten kann, bezweifeln Fachleute jedoch. Nach Ansicht von Expert*innen dürfte es äusserst schwierig werden, mittel- oder auch kurzfristig ohne drastische Auswirkungen auf russisches Erdgas verzichten zu können.

Können «die derzeitigen Liefermengen aus Russland in gleichem Umfang durch andere Bezugsquellen ersetzt werden», ist die Antwort dem Ökonomen Ralph Winkler von der Uni Bern zufolge schnell gefunden: «Nein!»

Das sieht auch Dominik Möst so. Ob eine rasche Reduzierung gelingt, hänge davon ab, «welchen Aufwand und welche Auswirkungen man in Kauf nehmen kann und möchte». Selbst «unter enormen Anstrengungen» liesse sich die Abhängigkeit in diesem Jahr kaum auf Null reduzieren, erklärt Möst.

Wie reagieren die Märkte?

Die Preise für fossile Energieträger — insbesondere für Erdgas — waren schon vor dem russischen Angriffskrieg angestiegen, gerieten durch die Invasion stark unter Druck und steigen mit dem Lieferstopp Russlands nunmehr weiter an.

Die Finanzmärkte reagierten am Mittwoch auf die Entwicklungen verunsichert. Der deutsche Aktienindex Dax verlor im frühen Handel knapp ein Prozent und fiel auf den tiefsten Stand seit Mitte März. Der Erdgaspreis schoss zeitweise um fast 20 Prozent nach oben.

Mit Material von dpa und afp.