Machtkampf in SyrienDiese Rolle spielt die Türkei beim jüngsten Rebellenerfolg
AP/tgab
6.12.2024 - 20:44
Während islamistische Rebellen in Syrien die Regierungstruppen bei ihrem schnellen Vorstoss vor sich hertreiben, verharrt die Türkei aufmerksam an der Seitenlinie. Sie verfolgt ihre eigenen Interessen.
DPA, AP/tgab
06.12.2024, 20:44
06.12.2024, 20:47
dpa
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Der Erfolg der Rebellenmilizen in Syrien eröffnet der Türkei neue Chancen der Stabilisierung der Region, aber auch Risiken.
Die Türkei hat eine 911 Kilometer lange Grenze zu Syrien. Der syrische Bürgerkrieg belastet sie, vor allem mit Flüchtlingen.
In jüngster Zeit hat sich Ankara um eine Aussöhnung mit Assad bemüht, um die Bedrohung durch kurdische Milizen zu verringern.
Das Letzte, was die Türkei will, ist eine kurdisch kontrollierte autonome Region an ihrer Grenze.
Die Rebellenoffensive könnte auch die Spannungen zwischen der Türkei und den Unterstützern Assads verschärfen – dem Iran und Russland.
Der Feldzug der Rebellen in Syrien wird von der Dschihadistengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) und einer Dachorganisation syrischer Milizen vorangetrieben, die von der Türkei unterstützt wird. Dennoch beteuern türkische Regierungsvertreter, Ankara beteilige sich nicht an der Offensive. «Diese mühseligen Märsche, die in der ganzen Region stattfinden, sind nicht das, was wir wollen», sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Freitag. Er habe Assad angeboten, gemeinsam über die Zukunft Syriens zu bestimmen. Doch das habe Assad ausgeschlagen.
Die Türkei hat eine 911 Kilometer lange Grenze zu Syrien und ist seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011 einer der wichtigsten Unterstützer von Gruppen, die Präsident Baschar al-Assad stürzen wollen.
Ein Blick auf die Risiken und Chancen für die Türkei angesichts der jüngsten Entwicklung:
Ankaras Interessen
Der syrische Bürgerkrieg belastet auch die Türkei. Der Konflikt hat ihr mehr als drei Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge beschert. In jüngster Zeit hat sich Ankara um eine Aussöhnung mit Assad bemüht, um die Bedrohung der Türkei durch kurdische Milizen zu verringern und die sichere Rückkehr von Flüchtlingen zu gewährleisten. Assad hat die Annäherungsversuche zurückgewiesen.
Rebellen in Syrien rücken auf Homs vor
Nach dem Einmarsch in Aleppo und Hama sind die Aufständischen am Freitag bis etwa 5 Kilometer vor die zentralsyrische Stadt Homs vorgerückt.
06.12.2024
Das Letzte, was die Türkei will, ist eine kurdisch kontrollierte autonome Region an ihrer Grenze. Ihre Truppen sind seit 2016 wiederholt nach Syrien vorgestossen, um die Terrorgruppe Islamischer Staat und kurdische Kämpfer zurückzudrängen und eine Pufferzone entlang ihrer Grenze zu schaffen. Inzwischen kontrolliert sie einen Teil Nordsyriens.
Dennoch hat sich die Türkei für den Erhalt der territorialen Integrität Syriens ausgesprochen. Sie hat sich für einen Abbau der Spannungen und eine Aussöhnung zwischen der syrischen Regierung und der Opposition eingesetzt, an den diplomatischen Bemühungen um eine Lösung des Konflikts beteiligt und unter anderem Gespräche mit Assads wichtigsten Unterstützern Russland und Iran geführt.
Der Standpunkt der Türkei
Türkische Regierungsvertreter betonen, sie seien nicht an Entwicklungen beteiligt, die zu erhöhter Instabilität in der Region führen könnten. «Alle Aussagen, die behaupten, dass die Türkei provoziert oder unterstützt hat, sind unwahr. Das sind alles Lügen», sagt der Sprecher der Regierungspartei AKP, Ömer Celik. «Was wir in Syrien wollen, ist in keiner Weise eine Zunahme der Gewalt oder der Zusammenstösse.»
Analysten sagen jedoch, dass die Rebellenoffensive ohne grünes Licht aus der Türkei unmöglich gewesen wäre. Obwohl die Türkei die HTS als terroristische Organisation einstuft, wird angenommen, dass sie erheblichen Einfluss auf die Gruppe ausübt.
Nach Ansicht der Direktorin des türkischen Programms des Nahostinstituts an der George-Washington-Universität, Gönül Tol, hat Ankara keine vollständige Kontrolle über die HTS, unterstützt sie aber indirekt, indem es Hilfslieferungen in die HTS-Hochburg Idlib zulässt. Das Abkommen zwischen der Türkei, Russland und dem Iran habe der Gruppe ebenfalls zum Aufschwung verholfen, sagt Tol.
Türkische Regierungsvertreter sagen, Ankara habe die Offensive monatelang verzögert. Die Rebellen hätten den Angriff schliesslich begonnen, nachdem syrische Regierungstruppen die von der Opposition gehaltenen Gebiete angegriffen und damit gegen eine Vereinbarung zwischen Russland, dem Iran und der Türkei zur Deeskalation des Konflikts verstossen hätten. Ursprünglich sei nur ein begrenzter Vorstoss geplant gewesen. Der Angriff sei jedoch ausgeweitet worden, nachdem die syrischen Regierungstruppen sich aus ihren Stellungen zurückgezogen hätten.
Risiken für Ankara
Der erfolgreiche Feldzug der Rebellen hat die Lage in Syrien destabilisiert. Das wiederum könnte eine neue Flüchtlingswelle in Richtung türkischer Grenze auslösen.
Die Rebellenoffensive könnte auch die Spannungen zwischen der Türkei und den Unterstützern Assads verschärfen – dem Iran und Russland. Das Nato-Mitglied Türkei unterhält nach Beginn des russischen Invasionskrieges gegen die Ukraine enge Beziehungen zu beiden Kriegsparteien. Tol sagt, Russland sei zwar mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt, doch Präsident Wladimir Putin werde Assad kaum fallen lassen.
Welche Ziele kann die Türkei erreichen?
Die Türkei bemüht sich seit 2022 um eine Normalisierung der Beziehungen zu Syrien. Assad besteht jedoch auf dem Abzug der türkischen Truppen aus Nordsyrien. Die Türkei lehnt das ab, solange die Bedrohung durch kurdische Milizen anhalte. Analysten glauben, dass die Offensive der Aufständischen den Druck auf Assad erhöht, sich mit der Türkei zu versöhnen und in Verhandlungen mit der syrischen Opposition einzutreten.
Darüber hinaus könnten die Erfolge der Rebellen es der Türkei ermöglichen, die syrisch-kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) von ihren Grenzen zu vertreiben. Trotz der Allianz der YPG mit den USA gegen den IS betrachtet die Türkei die YPG als terroristische Organisation. Vor kurzem hat eine andere Oppositionskraft, die von der Türkei unterstützte Syrische Nationalarmee, die YPG aus Tal Rifaat nördlich von Aleppo vertrieben. Nationalistische Verbündete Erdogans in der Türkei haben dazu aufgerufen, als Nächstes die von Kurden gehaltene Stadt Manbidsch anzugreifen.
Ausserdem könnte der Rückzug syrischer Regierungstruppen Bürgerkriegsflüchtlinge in der Türkei zur Rückkehr in die Heimat ermutigen. Der türkische Innenminister Ali Yerlikaya verweist darauf, dass etwa 40 Prozent der syrischen Flüchtlinge in der Türkei aus Aleppo stammen.
Analystin Tol hält es jedoch für fraglich, dass die Türkei die HTS kontrollieren kann. Diese sei vorgeprescht und verfolge ihre eigenen Interessen. «Die Frage ist, ob die HTS auf Erdogan hören wird, nachdem sie so viel Boden gewonnen hat», sagt Tol. «Die HTS ist ein Joker. Will die Türkei wirklich, dass eine dschihadistische Organisation ein Nachbarland regiert?»