USA «Wendepunkt» in USA? 22 Jahre Haft für Ex-Polizist in Floyd-Prozess

SDA

26.6.2021 - 17:34

Eine Gruppe von Demonstranten in der Innenstadt von Minneapolis bejubelt das Urteil über den ehemaligen Polizist Derek Chauvin, der zu 22,5 Jahren Gefängnis für den Mord an George Floyd verurteilt wurde. Foto: Julio Cortez/AP/dpa
Eine Gruppe von Demonstranten in der Innenstadt von Minneapolis bejubelt das Urteil über den ehemaligen Polizist Derek Chauvin, der zu 22,5 Jahren Gefängnis für den Mord an George Floyd verurteilt wurde. Foto: Julio Cortez/AP/dpa
Keystone

Die Familie des getöteten Afroamerikaners George Floyd und deren Anwälte werten die Haftstrafe für den verurteilten Ex-Polizisten Derek Chauvin als möglichen Schritt zu mehr Gerechtigkeit für Schwarze in den USA.

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Einer der Anwälte der Familie, Ben Crump, sagte am Freitag (Ortszeit) nach der Verkündung des Strafmasses für den 45-Jährigen, das Urteil biete die Chance, ein «Wendepunkt» in der US-Geschichte zu sein. Niemals sei ein Polizist im Bundesstaat Minnesota zu einer längeren Haftstrafe verurteilt worden. Das zuständige Gericht in Minneapolis hatte eine Haftstrafe von 22 Jahren und sechs Monaten gegen Chauvin verhängt. Er kann Berufung gegen das Urteil einlegen.

«Wir haben heute ein gewisses Mass an Rechenschaft erhalten», sagte Crump dazu. Angehörige Floyds mahnten zugleich, es seien dringend Reformen und strukturelle Änderungen im Kampf gegen Rassismus nötig. Und nichts könne George Floyd zurückbringen. US-Präsident Joe Biden wertete die Strafe in einer ersten Reaktion als «angemessen».

Kurz vor der Strafmassverkündung hatten sich mehrere Angehörige Floyds vor Gericht zu Wort gemeldet. Floyds Bruder Philonise sagte unter Tränen, er habe seit dessen Tod keine Nacht ruhig schlafen können, weil er von Alpträumen geplagt sei. Floyds kleine Tochter Gianna sagte per Videobotschaft an ihren Vater gerichtet: «Ich vermisse dich und liebe dich.»

Auch Chauvins Mutter, Carolyn Pawlenty, trat auf und beschrieb ihren Sohn als liebevollen und fürsorglichen Menschen, von dessen Unschuld sie überzeugt sei. Chauvin sprach Floyds Familie nur knapp sein Beileid aus und verfolgte das Geschehen ansonsten, ohne nach aussen hin eine Regung erkennen zu lassen.

Richter Peter Cahill verwies bei der Verkündung der Strafe auf den Schmerz der Floyd-Familie. Er betonte aber, das Strafmass richte sich nicht nach Emotionen, Mitgefühl oder öffentlicher Meinung, sondern nach der Rechtslage. Cahill veröffentlichte eine 22-seitige Begründung der Entscheidung. Chauvin kam demnach zu Gute, dass er nicht vorbestraft ist. Zugleich erkannte Cahill jedoch die besondere Schwere der Tat an und argumentierte, Chauvin habe als Polizist seine Machtstellung missbraucht, keine Erste Hilfe geleistet und Floyd in Anwesenheit von Kindern mit «besonderer Grausamkeit» behandelt.

Floyd war am 25. Mai vergangenen Jahres in Minneapolis bei einem brutalen Polizeieinsatz ums Leben gekommen. Beamte nahmen den 46-Jährigen fest, weil er eine Schachtel Zigaretten mit einem falschen 20-Dollar-Schein bezahlt haben soll. Videos von Passanten dokumentierten, wie Polizisten den unbewaffneten Mann zu Boden drückten. Chauvin presste dabei sein Knie gut neun Minuten lang auf Floyds Hals, während dieser immer wieder flehte, ihn atmen zu lassen. Floyd verlor das Bewusstsein und starb wenig später.

Die Videoclips der Szene verbreiteten sich damals rasant. Floyds Tod wühlte die USA auf und löste mitten in der Corona-Pandemie eine Welle an Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt aus. Das Verfahren gegen Chauvin wurde zu einem der aufsehenerregendsten Prozesse der jüngeren US-Geschichte. Im vergangenen April befanden die Geschworenen Chauvin in allen Anklagepunkten für schuldig. Der schwerwiegendste Anklagepunkt lautete Mord zweiten Grades ohne Vorsatz. Nach deutschem Recht entspräche dies eher Totschlag. Zudem wurde Chauvin auch Mord dritten Grades vorgeworfen – und Totschlag zweiten Grades. Chauvin hatte auf nicht schuldig plädiert.

Die Verteidigung hatte eine Bewährungsstrafe für den 45-Jährigen gefordert, die Staatsanwaltschaft dagegen 30 Jahre Haft. Bei guter Führung könnte Chauvin Experten zufolge nach Zweidrittel der nun verhängten Haft auf Bewährung freikommen, also nach 15 Jahren.

Die Floyd-Familie und deren Anwälte sprachen in einer gemeinsamen Mitteilung von einem «historischen» Strafmass und einem «bedeutenden Schritt nach vorne» angesichts der Missstände im Land. Mit Blick auf die offenen Anklagen auf Bundesebene gegen Chauvin und die anderen beteiligten Polizisten forderten sie aber erneut Höchststrafen.

Gegen Chauvin ist auch vor einem Bundesgericht Anklage erhoben worden. Ihm wird vorgeworfen, Floyd vorsätzlich seiner verfassungsmässigen Rechte beraubt zu haben. Neben Chauvin wurden ausserdem drei weitere am Einsatz gegen Floyd beteiligte Ex-Polizisten angeklagt. Sie werden in einem Verfahren in Minneapolis ab kommendem März vor Gericht stehen. Ihnen wird Beihilfe zur Last gelegt.

Einzelne Mitglieder der Floyd-Familie äusserten sich enttäuscht über Chauvins Strafe. Floyds Neffe Brandon Williams sagte: «22,5 Jahre sind nicht genug. (...) Wir kriegen George niemals zurück.» Nur lebenslange Haft wäre als Urteil angemessen gewesen. Der prominente Bürgerrechtler Al Sharpton sagte, es gebe keinen Grund zum Feiern. George Floyd sei tot. Gerechtigkeit wäre allein, wenn er noch am Leben wäre. Sharpton sagte zum Strafmass: «Wir haben mehr bekommen, als wir dachten – nur weil wir vorher so oft enttäuscht worden sind.» Ein einzelnes Urteil löse nicht die Probleme des Strafjustizsystems.

Floyds Schicksal steht für viele Amerikaner stellvertretend für Rassismus in den USA, für Polizeigewalt und unverhältnismässige Härte gegenüber Schwarzen in der Strafverfolgung. Floyds Tod löste 2020 in Amerika die grössten Bürgerrechtsproteste der vergangenen Jahrzehnte aus. Auch Chauvins Verteidiger, Eric Nelson, sagte: «Dies ist ein Fall, der die Welt zu einem gewissen Grad verändert hat.»

Floyds verzweifelte Worte «Ich kann nicht atmen» sind zu einer Metapher für Rassismus und Polizeigewalt in den USA geworden. Anwalt Crump sagte am Freitag: «Wir können heute ein bisschen besser atmen.»