Was macht Erdogan? «Umgekehrte Asylkrise»: Weniger Flüchtlinge erreichen Europa

dpa/tafi

22.12.2019

In Europa kommen 2019 weniger Flüchtlinge über das Mittelmeer an, als in den letzten fünf Jahren. Die Lage ist trotzdem vor allem in der Ägäis angespannt.
In Europa kommen 2019 weniger Flüchtlinge über das Mittelmeer an, als in den letzten fünf Jahren. Die Lage ist trotzdem vor allem in der Ägäis angespannt.
Keystone/AP/Petros Giannakouris

Im Jahr 2019 kommen weniger Migranten über das Mittelmeer nach Europa als in jedem der fünf Jahre davor. Auch in der Schweiz sinkt die Zahl der Asylgesuche. Ob das so bleibt, hängt nicht zuletzt von Erdogan ab.

In der Schweiz kommen 2019 so wenige Asylsuchende an wie seit Jahren nicht mehr. Verzeichnete das Staatssekretariat für Migration (SEM) 2015, dem Jahr der «Flüchtlingskrise», mehr als 40'000 Gesuche, wurden in den ersten elf Monaten 2019 laut offizieller Mitteilung 13'158 Asylgesuche registriert.

Die «Neue Zürcher Zeitung» schreibt schon von einer «umgekehrten Asylkrise», weil der Bund jetzt Asylzentren schliesst, um unnötige Betriebskosten zu sparen. Gleichzeitig werden neue Zentren gebaut und in Betrieb genommen, um «schwankungstauglich» zu bleiben: Stillgelegte Plätze sollen kurzfristig reaktiviert werden können, um schnell reagieren zu können, wenn die Zahl der Asylgesuche wieder steigt.

Wie in der Schweiz ist auch die Gesamtzahl der Migranten, die die europäischen Mittelmeerländer erreichten, 2019 gesunken. Waren 2018 noch 141'472 Migranten angekommen, haben dieses Jahr bis Mitte Dezember 119'974 Menschen aus der Türkei, aus Libyen und anderen Staaten Afrikas nach Europa übergesetzt. Dies teilte das UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) mit.

Explosive Lage in der Ägäis

Einzige Ausnahme bildet die Ägäis: Die Zahl der Migranten, die aus der Türkei nach Griechenland übersetzen, ist deutlich gestiegen. Bis zum 15. Dezember waren es nach UNHCR-Angaben 71'368 Menschen – und damit fast 21'000 mehr als im Gesamtjahr 2018. Um die überfüllten Lager auf den Inseln zu entlasten, begann die griechische Regierung Anfang Oktober, Migranten aufs Festland zu bringen.



Denn auf den griechischen Inseln im Osten der Ägäis ist es eng geworden. Ob Lesbos, Chios, Samos, Leros oder Kos – überall sind die Registrierungslager, Camps und Unterkünfte für Flüchtlinge und Migranten überfüllt. Mitte Dezember lebten dort gut 41'000 Migranten, bei einer Kapazität von gerade mal 7500. Die Lage ist explosiv.

Und dann droht auch noch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan immer wieder, den Flüchtlingen in seinem Land den Weg Richtung Europa zu öffnen. Damit wackelt der EU-Flüchtlingspakt mit der Türkei von 2016. Nach diesem darf jeder Migrant, der illegal auf die griechischen Inseln übersetzt, in die Türkei zurückgeschickt werden. Die türkischen Behörden hindern ihrerseits die Migranten daran, sich einzuschiffen.

Sorgenvoller Blick in die Türkei

Das Abkommen wirkte allerdings nur kurzfristig: Kamen 2015 nach UNHCR-Angaben noch 856'723 Menschen auf dem Seeweg nach Griechenland, so waren es 2016 nur noch 173'450 und 2017 gerade mal 29'178. Kurz vor Ende des Jahres 2019 sieht es anders aus: Der griechische Vize-Bürgerschutzminister Giorgos Koumoutsakos schätzte, dass an der türkischen Ägäisküste mindestens 250'000 Menschen auf eine Chance warteten, zu den griechischen Inseln und damit in die EU überzusetzen. Nicht nur griechische, auch viele andere europäische Politiker blicken mit Sorge in Richtung Türkei.

Derweil sank in Italien die Zahl der Neuankömmlinge von 181'436 im Jahr 2016 auf etwas mehr als 11'000 bis zum 16. Dezember dieses Jahres. Als Hauptgrund gilt ein umstrittenes Abkommen, das die damalige sozialdemokratische Regierung 2017 mit Libyen schloss. Das Memorandum wurde von informellen Vereinbarungen mit diversen Milizen des Bürgerkriegslandes begleitet. Ziel war es, die Libyer dazu zu bringen, Migranten nicht aufs Meer hinauszulassen.



Menschenrechtler prangern immer wieder die Zustände in libyschen Lagern an, in denen afrikanische Migranten gefangengehalten und misshandelt werden. Es gibt auch Berichte, dass Menschenhändler und Kriminelle Teile der von EU und Italien mitfinanzierten libyschen Küstenwache kommandieren.

Nach Einschätzung des italienischen Migrationsexperten Matteo Villa spielten ausserdem die Abkommen eine Rolle, die die EU mit Ländern wie Niger oder dem Sudan abgeschlossen hat, um Migranten schon südlich von Libyen aufzuhalten.

Viel Angst vor wenigen Landungen

In Italien wurde dann 2018 der rechte Hardliner Matteo Salvini Innenminister, der die internationalen Hilfsorganisationen bekämpfte und die Häfen für Rettungsschiffe schloss. Nach dem Regierungswechsel im September mit dem Ausscheiden von Salvinis Lega fährt die neue Führung einen moderateren Kurs. Villa sieht aber nur vorsichtige Änderungen an der von Rom seit Jahren verfolgten «Politik der Abschreckung». «Die Italiener haben sehr viel Angst vor sehr wenigen Landungen», bemerkt er.

Auch in Spanien kamen 2019 deutlich weniger Migranten an. Hatte das Land 2018 mit mehr als 65'000 die höchsten Ankunftszahlen unter den Mittelmeeranrainern, waren es bis Anfang Dezember 2019 nur 30'500. Dies wird vor allem auf eine bessere Kooperation mit Marokko zurückgeführt. Im Februar hatte sich die Regierung in Madrid mit Rabat über eine teilweise Rücknahme von im Mittelmeer aufgegriffenen Migranten geeinigt.



Villa erinnert daran, dass derzeit die Zahl der Migranten auf der zentralen Mittelmeerroute im Vergleich zu Ankünften in anderen EU-Ländern lächerlich niedrig ist. Allein in Deutschland wurden 2019 bis Ende Oktober nach Angaben des Bundesinnenministeriums 122'225 Erstanträge auf Asyl gestellt. Und von den Migranten, die in Italien ankommen, gelangen die wenigsten auf Rettungsschiffen wie der «Ocean Viking», der «Alan Kurdi» oder der «Open Arms» ins Land.

Fast täglich griff hingegen die griechische Küstenwache im Herbst Migranten an Bord von Jachten auf, die aus Westgriechenland nach Italien zu kommen versuchten. Trotzdem gelingt es vielen, die Strände Apuliens, Kalabriens oder Siziliens zu erreichen. Nach einem Bericht der Zeitung «Corriere della Sera» wurde die Route von Griechenland aus zur Hauptroute nach Italien.

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