Horror-Prozess in Frankreich Wie ein Chirurg über Jahrzehnte 299 Kinder missbrauchen konnte

Gregoire Galley

17.2.2025

Joël Le Scouarnec, hier in einer Gerichtsskizze aus dem Jahr 2020, steht ab 24. Februar in Vannes in einem Prozess vor Gericht, bei dem es um die Vergewaltigung von 299 Patientinnen und Patienten geht.
Joël Le Scouarnec, hier in einer Gerichtsskizze aus dem Jahr 2020, steht ab 24. Februar in Vannes in einem Prozess vor Gericht, bei dem es um die Vergewaltigung von 299 Patientinnen und Patienten geht.
Bild: AFP

Der 74-jährige Ex-Chirurg Joël Le Scouarnec konnte jahrzehntelang sein sexuelles Verhalten verbergen. Er soll in Frankreich etwa 300 junge Patienten missbraucht haben.

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Samuel Walder, Andreas Fischer

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  • Ein angesehener Chirurg in Frankreich führte über Jahrzehnte ein Doppelleben.
  • Er inszenierte privat pädophile Sadomaso-Szenen mit Sexpuppen und wird 2020 wegen der Vergewaltigung seiner Nichten, eines Nachbarmädchens und einer jungen Patientin zu 15 Jahren Haft verurteilt.
  • Doch der Fall stellte sich als noch schlimmer heraus: Der Arzt soll etwa 300 meist minderjährige Patienten vergewaltigt und misshandelt haben – oft unter Narkose.
  • Ab 24. Februar muss sich der Mann erneut vor Gericht verantworten.

Frankreich wird von einem weiteren monströsen Vergewaltigungsfall erschüttert: Ein heute 73-jähriger ehemaliger Chirurg soll bis zu 300 junge Patienten missbraucht haben. Zudem filmte er sadistische und zoophile Inhalte mit Puppen und führte akribisch Tagebuch über die Vergewaltigungen. Die Details des Falls sind erschreckend. 

Ermittler fanden bei Joël Le Scouarnec Sexpuppen in Kindergrösse, zahlreiche Videoaufnahmen und über 300'000 Aufnahmen von Kindesmissbrauch, berichtet «BBC». In Notizbüchern hat Le Scouarnec 299 Fälle von Vergewaltigung und Missbrauch detailliert dokumentiert, die er zwischen 1989 und 2014 begangen hat.

Der grösste Kindesmissbrauchs-Prozess in der französischen Geschichte wühlt das Land erneut auf. Erst im Dezember ging in Avignon der Prozess gegen die Vergewaltiger von Gisèle Pelicot zu Ende: Ihr Ehemann hatte seine Frau jahrelang immer wieder betäubt und anderen Männern zum Sex «überlassen». 

Arzt sitzt bereits wegen Vergewaltigung im Gefängnis

Der Fall von Joël Le Scouarnec wirft viele Fragen auf: Warum konnte der Mann so lange ungestraft weitermachen? Was wussten seine Kollegen? Was wusste seine Familie?

«Die psychiatrischen und psychologischen Untersuchungen zeigen, die verschiedenen Tendenzen einer besonders atypischen Persönlichkeit», teilte die Generalstaatsanwaltschaft der Presse mit. Die Behörden sind dem Täter schon seit 20 Jahren auf der Spur. Bereits 2005 wird er wegen des Besitzes von kinderpornografischen Bildern zu vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.

Das hindert ihn jedoch nicht daran, seine Karriere als Chirurg fortzusetzen. Im Jahr 2006 wurde er sogar im Krankenhaus von Quimperé fest angestellt. 2017 wurde er pensioniert: Im selben Jahr wurde er wegen der Vergewaltigung seiner sechsjährigen Nachbarin sowie zwei seiner Nichten verhaftet.

Beim Prozess im Dezember 2020 stand ein weisshaariger, gebeugter, alter Mann mit wenig Charisma vor Gericht, wie eine Journalistin der AFP berichtete. Francesca Satta, Anwältin von Le Scouarnecs Opfern, beschreibt ihn als «sehr kalt und sehr distanziert.» Le Scouarnec wurde zu einer 15-jährigen Haftstrafe verurteilt. Doch erst danach wurde das ganze Ausmass des Horror-Falls bekannt.

Im Spital hat niemand etwas bemerkt

In den verschiedenen Spitälern, in denen Joël Le Scouarnec praktizierte, alle im Westen Frankreichs, beschreiben ihn die meisten seiner ehemaligen Kollegen als «diskreten», «zurückhaltenden» Mann und einen «kompetenten» Arzt, der keine Zweifel geweckt hatte. Niemand will etwas davon bemerkt haben, dass er 158 Jungen und 141 Mädchen missbraucht hat.

Le Scouarnec wechselte aus verschiedenen Gründen mehrmals die Arbeitsstelle: Konflikte mit Kollegen, Widerstand gegen die Übernahme der Klinik durch eine Gruppe von «Finanziers», Schliessung seiner Abteilung.

Ausserhalb des Spitals isoliert er sich. In seiner Wohnung sammelt er Dutzende von Sexpuppen in Kindergrösse und nimmt mit ihnen verschiedene sexuelle Handlungen vor. Der Inhalt: zoophile und sadomasochistische Praktiken.

Le Scouarnec inszeniert sich in zahlreichen Fotos und Videos selbst. In der Anklage heisst es, er produzierte Inhalte, die «das Schmutzigste und Düsterste» zeigen und schwelgte in der «Welt der Pädophilie», da er sich für unantastbar hielt.

In seinen Notizbüchern, die 2017 bei einer Hausdurchsuchung entdeckt wurden, listet er sein Sexualleben auf und führt Buch darüber, wobei er sich als «besessen, ja sogar tyrannisiert von allem, was mit Sex zu tun hat» bezeichnet. Es werden mehr als 300'000 Fotos und 5'000 Gewaltvideos entdeckt.

Ehefrau: «Ich wusste nichts von seinen Neigungen»

Dabei beginnt sein Leben ganz normal: Joël Le Scouarnec, Sohn eines Tischlers und einer Hausmeisterin, ist das älteste von drei Kindern. Er ist in Paris geboren und aufgewachsen. Als sehr guter Schüler und Einzelgänger strebt er bereits im Alter von zehn Jahren danach, Chirurg zu werden, was ihm Anfang der 1980er-Jahre auch gelingt.

Er heiratet und wird Vater von drei Söhnen. Bald wird jedoch die Beziehung zwischen den Eheleuten immer schlechter. Das Paar trennt sich Anfang der 2000er-Jahre, die Scheidung wird jedoch erst 2023 vollzogen.

Seine Frau will allerdings nichts von den pädokriminellen Neigungen des Arztes gemerkt haben. Anfang Februar vertraute sie sich der Zeitung «Ouest-France» an und bekräftigte: «Ich wusste nichts von seinen Neigungen zu den Puppen. Ich habe erst nach seiner Verhaftung von seinen Heften erfahren», sagt sie.

«Das ist wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Ich habe mich gefragt, wie es sein kann, dass ich nichts gemerkt habe. Es ist ein schrecklicher Verrat, den er mir und meinen Kindern angetan hat», fährt seine Ex-Frau fort.