Flucht vor den Taliban Wer nach dem Deadline-Dienstag in Afghanistan bleiben muss

Von Philipp Dahm

26.8.2021

Die Taliban haben die Zufahrtsstrassen zum Flughafen Kabul gesperrt: Wer jetzt noch nicht am Airport ist, hat kaum noch eine Chance, auszureisen. Maximal 20'000 Menschen können das Land noch verlassen.

Von Philipp Dahm

26.8.2021

Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid äussert sich gestern eindeutig: Es werde keine Verlängerung der Deadline geben, nach der bis zum 31. August alle Evakuierungen aus Afghanistan abgeschlossen sein müssen.

Und schon jetzt haben die Fundamentalisten damit begonnen, die Zufahrtsstrassen zum Flughafen der Hauptstadt abzusperren: Wer jetzt noch nicht dort ist oder Papiere hat, die eine bevorstehende Ausreise belegen, bekommt keine Chance auf eine Evakuierung mehr.

Vor dem Flughafen von Kabul warten noch etwa 15'000 Menschen auf eine Ausreise. Dieses Foto ist am 23. August entstanden.
Vor dem Flughafen von Kabul warten noch etwa 15'000 Menschen auf eine Ausreise. Dieses Foto ist am 23. August entstanden.
KEYSTONE

Die Taliban haben gute Gründe für diese Massnahme: Ausländer, namentlich die Amerikaner, würden «afghanische Experten» fortbringen, die dann fehlen würden, so Mudschahid. «Wir haben sie gebeten, den Vorgang zu stoppen. Dieses Land braucht ihre Expertise. Sie sollten nicht von anderen Staaten weggebracht werden.»

Der Sprecher warnt seine Landsleute, zum Airport zu gehen. «Die Leute könnten ihr Leben verlieren.» Stattdessen solle man «in die Häuser zurückgehen und das ruhige Alltagsleben wieder aufnehmen». 

Taliban machen Airport-Zufahrtsstrassen dicht

Tatsächlich sind die neuen Machthaber dringend darauf angewiesen, dass die Wirtschaft und Verwaltung wieder zum Laufen kommen: Weil die Weltbank und die USA die afghanischen Konten eingefroren haben, brauchen die Taliban dringend Geld – etwa um die Energieversorgung aufrechtzuerhalten, die derzeit auf Pump aus den Nachbarländern kommen. Zudem kann es sich das Regime nicht erlauben, durch Versorgungslücken die frisch erlangte Macht gleich wieder zu gefährden.

Entgegen der eigenen Versprechen von einer Amnestie, die lanciert worden sind, um Ausreisewilligen keinen Grund für eine Flucht zu geben, gehen die Taliban jedoch inzwischen von Haus zu Haus, um nach Widersachern und Regimegegnern zu suchen. «Sie nehmen die Familien derer ins Visier, die nicht aufgeben wollen, und verfolgen und bestrafen diese nach der Scharia», warnt Christian Nellemann vom Norwegischen Zentrum für globale Analysen.

Sprich: Wer nicht unter den rund 5000 Afghanen ist, die es in den Flughafen geschafft haben, oder in der etwa 15'000 Personen umfassenden Menschenmenge, die noch vor den Airport-Toren ausharrt, muss im Lande bleiben. Rund 71'000 Menschen sind seit dem 14. August mit US-Maschinen evakuiert worden. Die deutsche Bundeswehr will 4650 Menschen ausgeflogen haben. 

Maximal 20'000 Menschen können noch ausreisen

Wer nicht das Feld räumen wird, sind diejenigen, die gegen die Taliban kämpfen wollen: Die Nationale Widerstandsfront von Afghanistan (NRF) sammelt sich derzeit im Pandschir-Tal, der letzten Provinz, die nicht von den Taliban kontrolliert wird. Die führenden Köpfe sind der frühere Vizepräsident Amrullah Saleh und Ahmad Massoud, der Sohn des berühmten «Löwen von Pandschir», der selbst zu Lebzeiten gegen die Taliban gekämpft hat.

Auch der frühere Verteidigungsminister befindet sich unter den geschätzt 10'000 Kämpfern vor Ort. Das Tal wird vor allem von ethnischen Tadschiken bewohnt, die den neuen Machthabern kritisch gegenüberstehen: Ethnische Minderheiten hatten im Islamischen Emirat zwischen 1996 und 2001 unter den Taliban nichts zu lachen. Taliban-Sprecher Mudschahid betont jedoch am Montag, das Tal werde im Moment von drei Seiten eingekreist: Die Versorgung der Widerstandsgruppe steht auf tönernen Füssen.

Und da wären da schliesslich noch die extrem Extremen: Der örtliche Ableger des sogenannten Islamischen Staats bereitet dem Westen Sorgen. ISIS-K nennt sich die Gruppe, die bereits mit Anschlägen auf den Flughafen gedroht hat. «Wir werden weiterhin ausserordentlich wachsam sein mit Blick auf die anhaltende Drohungen, und wir werden alle nötigen Massnahmen ergreifen, um unsere Streitkräfte und die Flüchtenden zu schützen und die Mission fortzusetzen», so ein Sprecher des US-Militärs.

Taliban-Kämpfer für Kaschmir

Der Vollständigkeit halber muss noch erwähnt werden, dass auch die Taliban Afghanistan nicht verlassen werden – abgesehen allerdings von ein paar Ausnahmen: Wie der Vorsitzende der pakistanischen Regierungspartei ausgeplaudert hat, wollen die Fundamentalisten nach dem gewonnenen Krieg in der Heimat ihre Kampfkünste in Diensten des grossen Nachbarstaates stellen.

Neelam Irshad Sheikh macht publik, die Taliban würden Pakistan im Konflikt um Kaschmir unterstützen wollen, berichtet wenig erfreut das indische Nachrichtenportal «NDTV»: «Die Taliban sagen, dass sie uns zur Seite stehen. Sie helfen uns, weil sie schlecht handelt worden sind.»

US-Präsident Biden will Abzug wegen Terrorgruppe nicht verschieben

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Die USA halten an ihrem Ziel fest, ihre Truppen bis zum 31. August aus Afghanistan abzuziehen. Das erklärte US-Präsident Joe Biden an einer Medienkonferenz im Weissen Haus. Die Staats- und Regierungschefs der G7-Staaten versuchten, eine Verlängerung der Frist zu erwirken, unter anderem, um nach der Machtergreifung der Taliban Tausende von Menschen aus Afghanistan zu evakuieren.

25.08.2021

Während der Deadline-Dienstag für die Taliban feststeht und auch Joe Biden findet: «Je früher wir fertig werden, desto besser», wollen Grossbritannien und Kanada sich noch nicht mit dem Evakuierungsende am 31. August abfinden. Doch auch wenn die CIA im Geheimen mit den Taliban in Kontakt stehen soll, ist eine Verlängerung der Frist jedoch unwahrscheinlich.