Massenpanik unter OrthodoxenWer trägt die Verantwortung in Israels «Staat im Staat»?
Von Joëlle Weil, Tel Aviv
30.4.2021
Nach der Massenpanik in Nordisrael beginnt die Suche nach den Ursachen. Und eine Grundsatzfrage kommt erneut auf: Wer trägt für die ultraorthodoxe Gemeinschaft in Israel die Verantwortung?
Von Joëlle Weil, Tel Aviv
30.04.2021, 15:27
30.04.2021, 17:49
Von Joëlle Weil, Tel Aviv
Unglücke mit vergleichbarer Opferzahl kennt man in Israel eigentlich nur von Terroranschlägen. Umso grösser war der Schock, als am Freitagmorgen von der Massenpanik beim Berg Meron in Nordisrael berichtet wurde. Bislang forderte die Massenpanik 45 bestätigte Todesopfer.
Wer in Israel am Freitagmorgen aufwachte, wurde von Meldungen zum Unglück überrannt. Die grossen Fernsehkanäle berichten in einer Endlosschlaufe über die Ereignisse. Die Fassungslosigkeit ist allgegenwärtig.
Zur Autorin
zVg
Joëlle Weil stammt aus Zürich und lebt seit 2013 in Tel Aviv. Sie ist als freie Journalistin für verschiedene Medien tätig.
Massenereignisse dieser Grössenordnung sind in Israel eigentlich keine Besonderheit. Auch spezifisch dieses religiöse Fest, das jedes Jahr zum Todestag eines wichtigen Rabbiners stattfindet, nicht. Im Gegenteil: Normalerweise nehmen doppelt so viele Pilger daran Teil. In Israel spricht man jedes Jahr von einem Wunder, dass noch nie etwas Vergleichbares wie diese Massenpanik passiert sei. Und wenn man von Wundern spricht, fühlt sich jeder gläubige Reisende in seinem Vorhaben bestätigt. Doch dieses Jahr war anders.
Die Wunden sind eigentlich zu frisch für Kritik
Wenn nichts passiert, ist es ein Wunder und wenn leider doch, dann möchte keiner dafür geradestehen. In Israel hat die Suche nach den Schuldigen begonnen. Und sie wirft eine konstant aktuelle Frage auf: Wer trägt für die ultraorthodoxe Gemeinschaft in Israel die Verantwortung?
Natürlich: Es ist denkbar ein schlechter und auch unsensibler Zeitpunkt, mit der ultraorthodoxen Gemeinschaft ins Gericht zu gehen. Das Unglück ist frisch, die Tränen der Hinterbliebenen noch nicht trocken. Dennoch muss sich Israel erneut einem Problem stellen, das schon lange ungelöst ist.
Der Rabbiner hat das letzte Wort
Die ultraorthodoxe Gemeinschaft ist mit zwei grossen Parteien Teil der israelischen Regierung. Aber auf Politik und offizielle Stellen hört dieser Teil der Bevölkerung kaum. In dieser so streng religiösen Gemeinschaft nehmen fast ausschliesslich die religiösen Führungspersonen Einfluss. Auch bei Alltagsfragen sucht man seinen Rabbiner auf, wenn man selbst nicht weiterweiss. Das gilt für Frauen als auch für Männer. Den Rabbinern gebührt das erste und letzte Wort.
Die Verstrickung von Religion und Politik ist in diesem Zusammenhang besonders kontrovers und in Israel immer wieder Stein des Anstosses – vor allem, weil es sich nicht um eine kleine Randgruppe handelt. Rund 15 Prozent der israelischen Bevölkerung zählt sich zur ultraorthodoxen Gemeinschaft, Tendenz – aufgrund der grossen Kinderzahl – steigend.
Weil Politik in dieser Gemeinschaft auf taube Ohren stösst, redet man in Israel vom «Staat im Staat». Bis Gesetze und Anweisungen von den Rabbinern vermittelt werden, gelten sie nicht. Ganze Städte funktionieren nach diesem Prinzip.
Es ist natürlich leicht, diese Struktur zu verurteilen und schlechtzureden. Und man muss gerade im Zusammenhang mit der Massenpanik beim Berg Meron aufpassen, nicht zynisch oder gleichgültig zu argumentieren. Gleichwohl ist es so: Die Ultraorthodoxen leben in einem Mikrokosmos, der von aussen nicht zu erreichen ist – was durchaus problematisch sein kann.
Egal, ob Koalition oder Opposition
Bereits im Laufe der Pandemie ist die streng gläubige Gemeinschaft durch ihren Ungehorsam aufgefallen, die israelische Presse ging hart mit ihr ins Gericht. Vielleicht sogar zu hart. Kein Tag verging, an dem die Ultraorthodoxen nicht thematisiert wurden. Der Ärger war gross, allgegenwärtig, teilweise gar unverhältnismässig.
Im selben Atemzug wird auch immer die Kritik an der Regierung, die nichts gegen diese anarchischen Zustände tue, laut. Aber solange die ultraorthodoxen Parteien Teil der Koalition sind – wie das in der Likud-Regierung unter Premierminister Benjamin Netanjahu der Fall ist – wird man sich davor hüten, strengere Töne anzuschlagen, denn mit seinen Koalitionspartnern möchte man es sich natürlich nicht verscherzen.
Doch auch wenn die Ultraorthodoxen Teil der Opposition wären, würde daran nichts ändern, denn es spielt für den Gehorsam der Gemeinschaft keine Rolle. Das Problem wird so vor sich hergeschoben – und nicht eben kleiner.
Mit Sicherheit wird eine Tragödie wie jene vom Donnerstagabend diese festgefahrenen Strukturen nicht brechen können. Aber vielleicht wird sie Einfluss darauf haben, wie Grossanlässe in dieser Form künftig stattfinden sollten. Man wird sich in Israel lange an die Massenpanik von Meron erinnern – aber es wird nicht mehr als eine dunkle Erinnerung bleiben.