GrossbritannienWie Boris Johnson vom Misserfolg der EU-Impfstrategie profitiert
SDA
30.1.2021 - 16:14
Mit gesenktem Kopf war Boris Johnson in der vergangenen Woche auf den Titelblättern mehrerer Zeitungen in Grossbritannien zu sehen gewesen. Das Land hatte offiziell die Marke von 100 000 Toten in der Corona-Pandemie überschritten, mehr als jedes andere in Europa.
Die Regierung und allen voran der Premierminister mussten sich schwere Vorwürfe gefallen lassen. Doch nun könnte sich das Blatt für den konservativen Politiker wenden. Denn mit seiner Impfkampagne ist Grossbritannien beeindruckend weit vorne. Vor allem weit vor der Europäischen Union. Im vergangenen Jahr hatte die Regierung in London noch Kritik einstecken müssen, weil sie nicht am gemeinsamen Beschaffungsprogramm der EU teilnehmen wollte. Inzwischen wird sie daheim dafür geradezu gefeiert.
Beinahe acht Millionen Menschen wurden im Vereinigten Königreich bereits mit einer ersten Dosis geimpft. Zum Vergleich: In Deutschland sind es gerade einmal 1,8 Millionen und in anderen Mitgliedsstaaten sieht es kaum besser aus. Das ist Wasser auf die Mühlen von Johnson, der wie kein anderer den EU-Austritt seines Landes betrieben hatte und darauf brennt zu beweisen, dass es sich gelohnt hat.
Beim Thema Brexit lief es für Johnson nicht gerade rund in den vergangenen Wochen. Berichte über Schwierigkeiten beim Handel mit dem Kontinent, vor allem für die Fischer, deren Interessen sich der Premier auf die Fahnen geschrieben hatte, liessen Zweifel am Sinn des Projekts aufkommen.
Doch auch hier hat Johnson Grund zur Hoffnung – dank des Streits der Europäischen Kommission mit Astrazenecea. Brüssels wütende Reaktion auf die Ankündigung des Impfstoffherstellers, zunächst nur einen Teil der versprochenen Dosen zu liefern, erweckt in Grossbritannien immer mehr den Eindruck einer Neiddebatte. Seit Tagen titeln nicht nur die Boulevardblätter im Land mit Schlagzeilen wie «Nein EU, (du) kriegst unsere Impfungen nicht» und «EU verlangt britischen Impfstoff». Der Tenor ist stets derselbe, Europa habe bei der Impfstoffbeschaffung seine Hausaufgaben nicht gemacht und wolle sich nun beim Nachbarn schadlos halten.
Den grössten Schub erhielt das anti-europäische Lager jedoch, als die Kommission in Brüssel am Freitagabend ein Dokument veröffentlichte, das Exportkontrollen von Impfstoffen regeln soll. Darin hiess es, die EU könne sich auf einen Notfallmechanismus im Brexit-Abkommen berufen, um zu kontrollieren, ob und wieviel Impfstoff über die Grenze vom Mitgliedsland Irland ins britische Nordirland gelangt.
Beim Thema Nordirland hatte sich die EU bei den Brexit-Verhandlungen aus Sicht der Briten geradezu schulmeisterlich aufgeführt. Es ging stets darum zu verhindern, dass Grenzkontrollen zwischen den beiden Teilen Irlands eingeführt werden, weil sonst um den fragilen Frieden in der ehemaligen Bürgerkriegsregion gefürchtet wurde. Nun wollte also Brüssel ausgerechnet den Warenverkehr an dieser Grenze kontrollieren?
Die Empörung in Grossbritannien kannte über alle politischen Lager hinweg kaum Grenzen. Nordirlands Regierungschefin Arlene Foster von der protestantisch-unionistischen DUP sprach gar von einem «unglaublich feindseligen und aggressiven Akt». Auch die Regierung in Dublin, die offenbar nicht einmal zu Rate gezogen worden war, war verärgert. «Es ist, als wollten sie unbedingt jeden, der für den Verbleib in der EU gestimmte hatte, davon überzeugen, dass der Brexit doch eine gute Idee war», brachte ein britischer Nachrichtensprecher die Stimmung auf den Punkt. Da half es auch nichts, dass Brüssel innerhalb von Stunden zurückruderte. Hinzu kam, dass britische Medien den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, ohnehin das erklärte Feindbild der Brexiteers, mit den Worten zitierten, der Astrazeneca-Impfstoff sei bei älteren Menschen praktisch wirkungslos.
Das eigentliche Thema des Impfstoffstreits geriet dabei völlig aus den Augen. Astrazeneca hatte die Lieferprobleme mit Schwierigkeiten bei der Produktion in den Werken in Belgien und den Niederlanden begründet. Die Werke in Grossbritannien hingegen produzieren im Hochbetrieb, wie Geschäftsführer Pascal Soriot im Interview mehrerer europäischer Blätter erklärte. Doch London habe nun mal seinen Vertrag mit Astrazeneca drei Monate früher vereinbart als Brüssel und darin sei festgelegt, dass die Werke auf britischem Boden zuerst nur für den britischen Markt produzieren dürften.
Das hatte für Wut und Empörung in Brüssel gesorgt. Schliesslich hatte die EU Solidarität als oberstes Credo ausgegeben und keinerlei Anstalten gemacht, die Impfstoffexporte zu begrenzen. Seit Dezember wird der in Belgien und Deutschland hergestellte Impfstoff von Pfizer und Biontech unter anderem nach Grossbritannien geliefert.
Doch auf Forderungen, Impfstoff an die EU abzugeben, reagierte Johnson bislang schmallippig. «Wir sind zuversichtlich, was unsere Versorgung betrifft, und vertrauen auf die Verträge, die wir haben», sagte er. Der Streit betreffe allein die EU und Astrazeneca. Zuhause wird er mit dieser Haltung als echter Staatsmann wahrgenommen – vielleicht zum ersten Mal in seiner Karriere.
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