Vom Musterschüler zum Sorgenkind Wie die Corona-Lage in Irland eskalierte

sda/dpa/toko

17.1.2021 - 14:44

Passanten mit Mund-Nasen-Bedeckungen gehen über die Gradton Street in Dublin.
Passanten mit Mund-Nasen-Bedeckungen gehen über die Gradton Street in Dublin.
Brian Lawless/PA Wire/dpa

Als die Fallzahlen im Dezember fast europaweit schockierten, schauten viele neidisch nach Irland. Nur wenige Hundert Corona-Fälle zählten die Iren pro Tag — doch dann kam Weihnachten. Eine Spurensuche, wie dem Land die Kontrolle entglitt.

Lange schien es, als habe Irland einfach alles richtig gemacht. «Das irische Volk, die irische Wissenschaft, die Regierung, sie alle haben ihren Teil beigetragen und es geschafft», lobte Michael Ryan von der Weltgesundheitsorganisation WHO. Bewundernd bis neidisch richteten sich noch Anfang Dezember die Augen auf den Inselstaat, während in vielen Ländern Europas die Corona-Infektionszahlen explodierten. Doch dann, ausgerechnet zu Weihnachten, der Wendepunkt: Die Kurve der Neuinfektionen in Irland schoss in die Höhe. Das alarmierte sogar die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ihrem Regierungssprecher zufolge die Lage im Land besorgt verfolgte. Aber: Was ist in Irland schief gegangen?

«Es war schockierend»

«Es war ein Glücksspiel – und es ist gescheitert», meint der Neurowissenschaftler Tomás Ryan vom Trinity College Dublin. Die irische Regierung habe – unter dem Einfluss von Lobby-Gruppen aus Gastronomie und Handel – im Dezember zu früh wieder alles geöffnet, auch private Treffen grosszügiger erlaubt. Dabei hätten grosse Teile der Bevölkerung strengere Massnahmen über einen kurzen Zeitraum bevorzugt.

Die Lockerungen, sie waren Entscheidungen mit verheerenden Folgen. «Die Zahlen sind durch die Decke gegangen», erzählt der Biochemiker Luke O'Neill vom Trinity College Dublin. «Es war schockierend.» Nach offiziellen Angaben stammt fast die Hälfte aller Corona-Infektionen in Irland aus den vergangenen zwei Wochen, die Infektionsrate lag zeitweise 20-mal höher als Anfang Dezember. Bei Ausbrüchen in Dutzenden Pflegeheimen haben sich viele besonders Gefährdete infiziert. Die Intensivstationen der ersten Krankenhäuser geraten an ihre Grenzen.

Der einstige Corona-Musterknabe Europas, er hatte zum Ende des Jahres dann doch keine bessere Bilanz vorzuweisen als seine Mitschüler. Im Gegenteil: Pro 100'000 Einwohnern gab es in den vergangenen zwei Wochen (bis zum 11. Januar) mehr als 1400 Neuinfektionen. Die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Corona erreichte in der vergangenen Woche ein Allzeithoch. Angesichts der hohen Zahl an Neuinfektionen dürfte das nicht der letzte traurige Rekord gewesen sein.

Irische Traditionen hätten eine grosse Rolle gespielt, meint der Epidemiologe Samuel McConkey von der irischen RCSI University of Medicine and Health Sciences. Selbst wenn man am anderen Ende der Welt wohne, komme man zu Weihnachten nach Hause – nach Irland, um tagelang gross mit der Familie zu feiern. «Weihnachten bei der eigenen Mutter zu sein, ist fast eine heilige Angelegenheit bei uns», erzählt McConkey.

Erlaubt war es zwar nur jeweils drei Haushalten, miteinander die Feiertage zu verbringen. Doch: Irische Familien seien oft grösser als in anderen europäischen Ländern, so kämen leicht viele Menschen zusammen, betont der Immunologe Luke O'Neill vom Trinity College Dublin. «Irische Weihnachten sind sehr sozial», meint auch sein Kollege Ryan. Alle drei irischen Corona-Experten sind sich einig: Die Weihnachtszeit war das Hauptproblem – nicht etwa die hoch ansteckende Virus-Variante B.1.1.7, die zuerst in England entdeckt wurde und dort die Infektionslage ausser Kontrolle geraten liess.

«Der Anstieg hatte nichts mit der neuen Variante zu tun», sagt Ryan. Diese habe sich über den Dezember zwar über das Land ausgebreitet, werde aber erst in den kommenden Wochen für grosse Probleme sorgen. Denn mittlerweile mache die Mutation rund die Hälfte der Corona-Fälle in Irland aus. Experten gehen davon aus, dass sie bald die dominante Variante sein wird.

Notbremse der Regierung

Noch an den Weihnachtsfeiertagen zog die irische Regierung die Notbremse: Seit Ende Dezember gelten strenge «Level 5»-Massnahmen, die einem harten Lockdown entsprechen. Private Treffen sind so gut wie vollständig verboten, Sport ist nur maximal fünf Kilometer vom eigenen Zuhause entfernt zulässig, Schulen und Gastronomie – alles zu. «Die gute Nachricht ist: Das funktioniert nun», sagt McConkey, der selbst auch in einem Krankenhaus arbeitet. Seit einigen Tagen fallen die Zahlen.

Seinen Kollegen zufolge kommt es nun darauf an, aus den Fehlern zu lernen und diesen Lockdown lange und konsequent genug durchzuhalten. Irlands Vize-Regierungschef Leo Varadkar liess bereits durchblicken, die Massnahmen könnten bis in den März gelten. Die Experten O'Neill und Ryan setzen sich – gemeinsam mit etlichen europäischen Kollegen – für eine sogenannte «Zero Covid»-Strategie ein. Mit einem koordinierten internationalen Shutdown sollten die Fallzahlen ihrer Ansicht nach so weit nach unten gebracht werden, dass eine Nachverfolgung wieder möglich wird. Nur dann könnten weitere Wellen und zahlreiche Todesfälle verhindert werden.

Enttäuscht von Nordirland

Vom unmittelbaren und hart von Covid-19 gebeutelten Nachbarn Nordirland, der zu Grossbritannien gehört, zeigt sich der Mediziner McConkey enttäuscht. Da die stark an England orientierte Regierung Nordirlands ihre Beziehungen nach London nicht gefährden wolle, habe etwa eine konsequente Quarantäne für Einreisende aus Grossbritannien nie zur Debatte gestanden, beklagt er. Und «Zero Covid» funktioniere eben nur, wenn alle mitzögen.

Einen Lichtblick gibt es für die Iren in diesen Tagen dennoch. Nach einem verhaltenen Start hat ihr Impfprogramm nun Fahrt aufgenommen – und bei der Rate der Geimpften im Verhältnis zur Einwohnerzahl nach Daten der Oxford-Universität mittlerweile auch Deutschland überholt. O'Neill ist zuversichtlich, dass unter den Pflegenden und Älteren die Impfbereitschaft hoch bleiben wird. «Es hat ein bisschen gedauert – aber jetzt rollen wir es aus, so schnell wir nur können.»

Zurück zur Startseite