Zermürben und überlistenSo will die Ukraine auf dem Schlachtfeld die Oberhand gewinnen
AP/tpfi
1.7.2023
Zermürben und überlisten – das sind zentrale Bestandteile der Strategie der ukrainischen Streitkräfte. Verunsicherung auf russischer Seite nach dem Aufstand der Wagner-Söldner könnte Kiew in die Hände spielen. Wie sehr, bleibt jedoch abzuwarten.
AP/tpfi
01.07.2023, 20:17
AP/tpfi
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Die Gegenoffensive der Ukraine gegen die russischen Besatzer kommt nur langsam voran.
Nach eigenen Angaben erzielten die Ukrainer Geländegewinne in den ukrainischen Regionen Bachmut, Luhansk und Saporischschja.
Kleinere Einheiten setzen auf den Überraschungsmoment und arbeiten sich Schritt für Schritt voran.
Der Angriff war bereits dreimal aufgeschoben worden. Schliesslich sahen die ukrainischen Kommandeure ein günstiges Zeitfenster. Im Schutze der Nacht rückten Soldaten der 129. Brigade auf die offenbar nichts ahnenden Gegner in Neskutschne vor. Als die dort stationierten Russen merkten, was los war, hatten sie kaum noch eine Chance. Der Geländegewinn mag überschaubar gewesen sein. Und doch war die Aktion für Kiew ein wichtiger Erfolg.
Ukraine: Langsamer Vormarsch an mehreren Abschnitten
Die ukrainische Armee hat nach eigenen Angaben den russischen Gegner an mehreren Frontabschnitten um über einen Kilometer zurückgedrängt.
01.07.2023
Die Rückeroberung des Dorfes in der Region Donezk am 10. Juni gibt einen Einblick in die Strategie der Ukrainer in der Anfangsphase ihrer vor wenigen Wochen gestarteten Gegenoffensive. Kleinere Einheiten setzen auf den Überraschungsmoment und arbeiten sich Schritt für Schritt voran. «Wir hatten einige Szenarien. Am Ende haben wir das beste ausgewählt, denkeich: leise und unerwartet zu kommen», sagt der 41-jährige Serhij Scherebylo, Vize-Kommandeur des Bataillons, das die Ortschaft eroberte.
Folgen des Wagner-Aufstands noch unklar
Entlang der etwa 1500 Kilometer langen Front versuchen die Ukrainer mit Vorstössen wie dem in Neskutschne, bessere Rahmenbedingungen für eine wohl noch bevorstehende grössere Initiative zu schaffen. Eine mögliche Strategie wäre die, das russisch besetzte Gebiet zunächst in zwei Teile zu teilen und dabei die bereits 2014 von Moskau illegal annektierte Halbinsel Krim zu isolieren.
Ukraine's forces advance daily by "at least 500 meters" during the summer counteroffensive despite the lack of military hardware; Ukraine will strengthen its northern borders amid reports of Wagner's redeployment to Belarus; and more. https://t.co/3jWVAvvyop
— The Kyiv Independent (@KyivIndependent) June 30, 2023
Moralischen Auftrieb erhielten die ukrainischen Truppen am vergangenen Wochenende durch den Aufstand der Wagner-Söldner. Auch wenn der interne Konflikt auf russischer Seite schnell beendet wurde, war er laut Einschätzung vieler Experten die grösste Bedrohung für die Macht von Präsident Wladimir Putin seit zwei Jahrzehnten. Die Auswirkungen auf die Lage an der Front in der Ukraine sind bisher offenbar gering. Trotzdem dürfte die Rebellion von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin in der politischen und militärischen Führung Russlands für Verunsicherung gesorgt haben.
Die Zeit läuft
In den zurückliegenden Tagen hat die Ukraine unter anderem im Bereich der Stadt Bachmut ihre Angriffe verstärkt. An den meisten Abschnitten der Front scheinen die russischen Abwehrstellungen aber weiterhin sehr stark zu sein. Ob die Ukrainer zum jetzigen Zeitpunkt schon auf entscheidende Durchbrüche hoffen, ist unklar. Allzu viel Zeit haben sie jedoch nicht: Bis zum Herbst, in dem das Gelände für grössere Vorstösse wieder zu matschig werden könnte, bleiben nur etwa vier Monate.
Every Ukrainian soldier knows the price of every liberated meter of Ukrainian land.
«Obwohl die ukrainischen Truppen kleine und stetige Fortschritte erzielen, verfügen sie noch nicht über die operative Initiative. Das heisst, sie bestimmen nicht das Tempo und die Bedingungen des Geschehens», sagt Dylan Lee Lehrke, Experte der britischen Sicherheitsinformationsfirma Janes. Einige Beobachter würden deswegen behaupten, die Gegenoffensive bleibe hinter den Erwartungen zurück. Aber ein so schnelles Vorrücken wie im Herbst in der Region Charkiw sei nicht realistisch gewesen, denn «die russischen Truppen hatten zu viel Zeit, ihre Befestigungen vorzubereiten».
Kleine Erfolge – aber noch kein Durchbruch
Von russischer Seite ist derweil von grossen Verlusten auf ukrainischer Seite seit Beginn der Gegenoffensive die Rede – 259 Panzer und 790 gepanzerte Fahrzeuge wurden laut Putin bereits zerstört. Eine unabhängige Überprüfung dieser Angaben ist allerdings kaum möglich.
Die Kämpfe toben jedenfalls in vielen Gebieten des Landes. In der südlichen Region Cherson hat die Zerstörung des Kachowka-Staudamms den Ukrainern offenbar etwas mehr Bewegungsfreiheit verschafft. Nach Angaben russischer Militärblogger rücken kleine Gruppen von ukrainischen Kämpfern in der Nähe des Flusses Dnipro vor, was von Kiew bisher jedoch nicht bestätigt wurde. Auch in der Region Saporischschja haben die Ukrainer einige Erfolge gemeldet. Sollte es ihnen gelingen, dort wieder einen Zugang zum Asowschen Meer herzustellen, würden sie damit die russische Landverbindung zur Krim kappen. Davon sind sie aber wohl noch weit entfernt.
Russische Verteidigungslinien halten noch
In einer unterirdischen Kommandozentrale an der Front schaut ein ukrainischer Befehlshaber mit dem Rufnamen «Hunter» auf eine Luftaufnahme vom nahegelegenen Schlachtfeld. Seine Soldaten haben gerade eine feindliche Stellung angegriffen, aber das Gegenfeuer dauert an. «Hunter» weist einen Drohnenpiloten an, zu schiessen. Auf dem Bildschirm ist zu sehen, wie eine riesige schwarze Rauchwolke aufsteigt. Es sei ein Treffer gewesen, sagt der Ukrainer.
Laut Experten sind die Ukrainer in den meisten Gebieten allerdings noch mehrere Kilometer von den eigentlichen Verteidigungslinien der Russen entfernt. Und mit jedem weiteren Vordringen steigt für sie auch die Gefahr durch russische Angriffe aus der Luft. Die ukrainische Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar sagte diese Woche, im Süden seien insgesamt mindestens 130 Quadratkilometer zurückerobert worden. Doch anders als bei einigen früheren Gegenstössen der Ukraine, bei denen russische Truppen kaum Widerstand leisteten oder gar flüchteten, scheinen die Invasoren diesmal entschlossen, ihre Positionen zu verteidigen.
Wer ist raffinierter?
Im Nordosten haben die Russen offensive Operationen in einem Waldgebiet nahe der Stadt Kreminna verstärkt. Dabei gehe es zunächst einmal darum, eine Pufferzone zur Absicherung von russischen Versorgungswegen zu schaffen, sagt Lehrke. Womöglich verfolge Moskau dort aber noch ein weiteres Ziel – nämlich die Entsendung von weiteren ukrainischen Truppen in dieses Gebiet zu erzwingen.
Der in der Nähe von Bachmut eingesetzte Kommandeur Wolodymyr Silenko schert sich wenig um Kritik am Tempo der Gegenoffensive. Ein Krieg sei kein Wettkampf der rohen Gewalt, bei dem es nur auf die verfügbare Menge an Waffen und Soldaten ankomme. «Es geht vielmehr darum, wer raffinierter ist», sagt der Ukrainer. Er wisse, dass seine Leute von den Russen beobachtet würden, genau wie er die Russen beobachte. «Unsere Aufgabe ist es, sie auszutricksen.»