Das Grauen aus der Ferne Wie ich als Journalist in Zürich den 7. Oktober 23 erlebt habe

Philipp Dahm

7.10.2024

Angehörige von Geiseln blockieren den Verkehr in Tel Aviv am Vorabend des 7. Oktobers

Angehörige von Geiseln blockieren den Verkehr in Tel Aviv am Vorabend des 7. Oktobers

Am 7. Oktober, hat die radikalislamische Organisation Hamas bei einem Überfall mehr als 1200 Menschen in Israel getötet sowie etwa 250 weitere als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Rund 100 müssten noch in Gaza sein.

06.10.2024

Was wie ein gewöhnlicher Wochenend-Dienst im Homeoffice beginnt, mutiert zu einem Tag des Schreckens. Der 7. Oktober brennt sich auch ins Gedächtnis ein, wenn man das Grauen nur aus der Ferne mitverfolgt. 

Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Am heutigen 7. Oktober vor einem Jahr hat die Hamas einen Terrorangriff auf Israel verübt, bei dem 1180 Israelis getötet, 3400 Personen verletzt und 251 Menschen entführt worden sind.
  • So hat blue News Journalist Philipp Dahm jenen Samstag im Homeoffice in Zürich erlebt.
  • Seit der Ermordung von Israels Premier Jitzchak Rabin geht es mit dem Nahostkonflikt nur noch bergab.
  • Die Spirale der Gewalt dreht unaufhörlich, und alles, was bleibt, ist Ohnmacht.

Zunächst deutet nichts darauf hin, dass der 7. Oktober 2023 ein spezieller Tag werden wird. Meinen Wochenend-Dienst bestreite ich nicht aus der blue News Redaktion in Volketswil ZH heraus, sondern setze mich um 6.30 zu Hause in Zürich vor den Computer.

Die Schicht beginnt ohne besondere Vorkommnisse. Polizeimeldungen trudeln ein. Es gibt Updates aus der Ukraine. Und dann berichten die Nachrichtenagenturen, dass einige bewaffnete Hamas-Kämpfer vom Gazastreifen aus nach Israel eingedrungen sind.

Das lässt bei mir noch keine Alarmglocken läuten: Scharmützel zwischen Palästinensern und Israelis sind leider an der Tagesordnung. Ein erstes Video landet im Netz, das einen Bagger, einen eingedrückten Grenzzaun und johlende junge Männer zeigt, die auf einem qualmenden Panzer stehen.

Nahostkonflikt? Kummer gewohnt!

Auf den ersten Blick beunruhigt mich das nicht. Blutige Eskalationen zwischen den Konfliktparteien gibt es immer wieder seit den 90ern. Damals hat der Oslo-Friedensprozess berechtigte Hoffnung geweckt, dass der ewige Krieg doch noch ein Ende findet. Fast hätte es geklappt.

Israel hat ein Angebot auf den Tisch gelegt, sich aus über 90 Prozent der besetzten Gebiete zurückzuziehen. Doch die vielversprechenden Verhandlungen enden am 4. November 1995 mit einem Knall, als ein rechtsradikaler Israeli Premier Jitzchak Rabin mit einer Pistole erschiesst.

4. November 1995: Jitzchak Rabin und Palästinenser-Präsident Jassir Arafat sind drauf und dran, den Nahostkonflikt zu lösen, als ein radikaler Israeli in Tel Aviv auf den Premier schiesst. Seine Sicherheitsleute hieven ihn anschliessend in ein Auto, doch Rabin überlebt das Attentat nicht. Mit ihm stirbt auch der Friedensprozess.
4. November 1995: Jitzchak Rabin und Palästinenser-Präsident Jassir Arafat sind drauf und dran, den Nahostkonflikt zu lösen, als ein radikaler Israeli in Tel Aviv auf den Premier schiesst. Seine Sicherheitsleute hieven ihn anschliessend in ein Auto, doch Rabin überlebt das Attentat nicht. Mit ihm stirbt auch der Friedensprozess.
Bild: Keystone

Im Nahostkonflikt führt die Rolltreppe seither immer nur in eine Richtung: Es geht stetig abwärts. Der Siedlungsbau in den Palästinensergebieten geht ebenso weiter wie die Messerstechereien in Israel. Die Dauer dieser Konfrontation stumpft ab: Zunächst scheinen ein paar Bewaffnete, die den Grenzzaun überwinden, deshalb keine grosse Sache zu sein.

Die Bilder und Videos machen mich fertig

Bis weitere Horror-Meldungen eintreffen. Erst heisst es, Hamas-Kämpfer hätten eigene Fluggeräte gebaut, um in Israel einzudringen. Dann ist von Schiessereien und Toten die Rede, und es wird langsam deutlich, dass dieser 7. Oktober doch kein Tag sein wird wie jeder andere.

Während ich in der warmen Stube in Zürich sitze, beginne ich auf Social Media nach aktuellen Informationen zu suchen. Ich werde fündig, doch ich bereue es. Die Bilder und Videos, die ich sehe, machen mich fertig. Israelis fliehen unter Lebensangst vom Gelände eines Festivals. Ich sehe junge Leute mit Panik im Gesicht und dann die ersten Toten. Zivilisten, die massakriert worden sind.

19. September 2024: Freunde und Angehörige erinnern an die Opfer, die beim Supernova Festival am 7. Oktober 2023 in der Nähe des Kibbuz Reim von Hamas-Terroristen getötet worden sind.
19. September 2024: Freunde und Angehörige erinnern an die Opfer, die beim Supernova Festival am 7. Oktober 2023 in der Nähe des Kibbuz Reim von Hamas-Terroristen getötet worden sind.
Bild: Keystone

Insbesondere einen Clip werde ich nie vergessen. Darin ist ein Pick-up zu sehen, auf dessen Ladefläche eine halbnackte Israelin liegt, der Blut die Beine herunterläuft. Wie ein Stück Vieh liegt sie auf der Pritsche: Junge Männer johlen, schreien und feiern ob der Geisel, die bald darauf tiefer in den Gazastreifen gebracht wird.

Sehen, was man lieber nicht sehen will

Die Frau wird diese Szene nicht überleben. Die Deutsch-Israelin Shani Louk ist eines von 797 zivilen Todesopfern des 7. Oktobers. 36 davon sind Kinder. Auch 397 Sicherheitskräfte sterben, was den Blutzoll auf 1180 erhöht. Weitere 3400 Personen werden verletzt. Es ist der grösste Verlust, den Israel seit dem Jom-Kippur-Krieg zu verkraften hat.

Das ganze Ausmass der Attacke schimmert erst im Verlauf des Tages durch. Hamas-Terroristen haben Zivilisten gejagt und Kinder ermordet, die sich voller Angst in Schutzräume gekauert haben. 251 Menschen werden verschleppt: Viele sind noch immer in der Hand der Hamas, und die Hoffnung, sie lebend in ihre Heimat zurückzubringen, schwindet von Tag zu Tag.

Die Gewalt, die ich im Internet sehe, treibt mir an meinem Schreibtisch in Zürich Tränen in die Augen. Gerade das Schicksal der Kinder bricht mir als Vater das Herz. Gern hätte ich mir die Bilder und Videos erspart, doch es gehört zu meinem Job, das Grauen zu filtern und das zu zeigen, was ich an diesem Datum weitergeben kann, um über die Tat zu informieren.

Unaufhörlich dreht die Spirale 

Ein Jahr ist seit diesem schwarzen Tag vergangen, der mich an den 4. November 1995 erinnert. Rabins Ermordung und der Terror-Überfall der Hamas haben gemein, dass sie eine Spirale der Gewalt in Gang setzen, die anscheinend nicht aufzuhalten ist. 

15. Oktober 2023: Rauch steigt über Beit Lahiya in Nordgaza auf. Es ist erst der Auftakt der andauernden israelischen Kampagne im Gazastreifen.
15. Oktober 2023: Rauch steigt über Beit Lahiya in Nordgaza auf. Es ist erst der Auftakt der andauernden israelischen Kampagne im Gazastreifen.
Bild: Keystone

Israel schlägt nach dem 7. Oktober knallhart zurück, marschiert in den Gazastreifen ein und treibt die Hamas, aber auch die Zivilbevölkerung vor sich her. Nun sind es die Videos von dort, die man besser nicht gesehen hätte. Verzweifelte Zivilisten ziehen Angehörige aus den Trümmern, die die israelischen Streitkräfte zurücklassen.

Trümmerlandschaft: Blick auf Chan Yunis am 14. April.
Trümmerlandschaft: Blick auf Chan Yunis am 14. April.
Bild: Keystone

Untröstliche Väter beklagen den Tod ihrer unschuldigen Kinder: Der Papa in mir kann auch das kaum ertragen. Der Gaza-Krieg folgt einem teuflischen Drehbuch: Die Hamas verschanzt sich bewusst hinter der Zivilbevölkerung, die kaum eine Chance hat, der Rache Israels zu entgehen. Die Zahl der Opfer geht in die Tausende, und das Leid ist von der sicheren Schweiz aus nicht zu fassen.

Was bleibt, ist Ohnmacht

Und die Spirale dreht sich unaufhörlich weiter. Die Hisbollah beschiesst den Norden Israels mit Raketen, um der Hamas beizustehen. 60'000 Israelis verlassen das dortige Gebiet, und ihre Armee antwortet mit massiven Luftangriffen, die wiederum die libanesische Bevölkerung im Süden ihres Landes zur Flucht zwingen.

Was soll ich nun schreiben, da sich das Grauen zum ersten Mal jährt? Ich bin ehrlich gesagt ratlos.

Ich würde diesen Tag gern vergessen, aber ich werde es niemals tun. Ich möchte keine Bilder mehr von verzweifelten Frauen, Kindern und Männern sehen, aber das ist ein frommer Wunsch. Ich würde gern glauben, dass die Spirale der Gewalt irgendwann aufhört, sich zu drehen. Aber ich mache mir da keine Illusionen.

Es wird sich nichts ändern im Nahen Osten, fürchte ich. Oder aber ein Wunder muss geschehen.