Ukraine-KriegWie Russland den Winter zur Waffe macht
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1.1.2023 - 00:00
In bitterer Kälte müssen unzählige Ukrainer*innen nach russischen Angriffen auf die Infrastruktur ihres Landes ohne Strom und Heizung auskommen. Präsident Selenskyj spricht von «Energie-Terrorismus».
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01.01.2023, 00:00
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Kein Wasser, kein Strom, dafür unendliche Angst: Mit ihren zwei kleinen Kindern verkroch sich Vildana Mutevelić in einer möglichst sicheren Ecke ihrer Wohnung, während Geschosse ins Dach des Hauses einschlugen. Fast hätte es auch sie getroffen. Sie überlebten. Die schrecklichen Erfahrungen liegen drei Jahrzehnte zurück, doch Vildana Mutevelićs Herz schlägt für ihre Schicksalsgenossen in der Ukraine und weckt die Erinnerungen an damals in Sarajevo.
Im Bosnien-Krieg wurde die Stadt von bosnisch-serbischen Truppen belagert und beschossen. Im Ukraine-Krieg greift Russland zu den Waffen und bringt Not und Leid über die Menschen. Rund neun Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj mitten im bitteren Winter keinen Zugang zu Strom. Er spricht von «Energie-Terrorismus».
Der ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin nennt die gezielten Angriffe Russlands auf die Versorgungsstrukturen der Ukraine einen Akt des Völkermords. «Wir sind überzeugt, dass die Verbrechen gegen die Ukraine alle Kennzeichen des Genozids tragen», heisst es in einer Erklärung an die Nachrichtenagentur AP. «Der Aggressor-Staat setzt den Winter als Waffe ein, nimmt den Ukrainern die Grundlagen – Strom, Wasser, Heizung.»
Die Bevölkerung zu terrorisieren, um ihre Moral zu brechen, sei absolut keine Notwendigkeit für die Kriegsführung, betont auch die Völkerrechtsexpertin Mary Ellen O'Connell von der Universität von Notre Dame. «Selbst wenn ein militärisches Ziel angegriffen wird, verübt man ein Kriegsverbrechen, wenn die Absicht dabei ist, Zivilisten zu terrorisieren.»
Der russische Pfad der Zerstörung zieht sich quer durch die Ukraine. Von Ost bis West hatten Raketen- und Drohnenangriffe den grösstmöglichen Schaden für die Energieinfrastruktur zum Ziel.
Dramatische Folgen für die Zivilbevölkerung
Nach Angaben von Generalstaatsanwalt Kostin gab es seit Beginn der russischen Invasion im Februar rund 170 Raketenangriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur, wobei fast 80 Prozent der Attacken im Oktober, November und Dezember erfolgt seien. Russland habe das Stromnetz der Ukraine zu einem Hauptziel gemacht, «weil das der einfachste Weg ist, die Zivilisation zu stören und eine humanitäre Katastrophe hervorzurufen», sagt Wolodymyr Kudryzkyj, Chef des staatlichen Netzbetreibers NEC Ukrenergo im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP.
Und die Folgen für die Ukrainerinnen und Ukrainer sind gerade jetzt in der kalten Jahreszeit dramatisch. Nach einer Schätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden in diesem Winter zwei bis drei Millionen Menschen in dem Kriegsland auf der Suche nach Wärme und Sicherheit ihre Häuser verlassen müssen. Die Bevölkerung eines Landes leiden und sterben zu lassen, um ihre Regierung zum Einlenken zu bewegen, ist keine neue Kriegsstrategie. Regelmässig ist sie aber auch immer wieder gescheitert: in Sarajevo ebenso wie in Grossbritannien unter den Angriffen Nazi-Deutschlands vor 80 Jahren.
Familien, Nachbarn, Gemeinden halten zusammen und leisten Widerstand. «Die Fähigkeit einer modernen Bevölkerung, aus schierer Willenskraft zum Weitermachen unter Druck und Aggression zu überleben, wird manchmal unterschätzt», meint Bruno Tertrais von der Denkfabrik Institut Montaigne in Paris.
Dieselbe Entschlossenheit und Widerstandskraft gepaart mit Einfallsreichtum zeigen nun unzählige Ukrainerinnen und Ukrainer – so wie Tetiana Boitschenko. Die Frau aus Kiew hat sich ein billiges Zelt besorgt und auf ihrem Bett aufgestellt. Darin – auf einer Unterlage mehrerer Decken – ist es drei bis vier Grad wärmer als im übrigen Raum. Vor dem Frühling werde sie das Zelt nicht abbauen, ist sich Boitschenko sicher.
Heizen mit Backsteinen
Oder Larysa Schewzowa in der Stadt Cherson: In ihrer Wohnung fiel der Strom aus ebenso wie das Wasser, doch Gas gibt es noch für den Herd in der Küche. Mit Hilfe zweier Backsteine fängt die Familie die Hitze dort ein. Sobald ein Stein aufgeheizt ist, wird er ins Wohnzimmer gebracht, um dort die Eiseskälte abzuwehren. «Wir nutzen diese Methode, um den Raum aufzuwärmen», sagt Schewzow. «Vorher haben wir einfach nur gefroren.»
In Sarajevo ist die pensionierte Krankenschwester Lamija Polic in Gedanken bei den Menschen in der Ukraine. Mit ihnen durchlebt sie die Not der 1990er Jahre erneut. «Man macht ein Feuer, aber es hält nur ein paar Minuten, dann wartet man, bis man die Kälte nicht länger aushalten kann und macht ein neues», sagt sie. «Wir verbrannten alles, was wir hatten: Schlappen, Schuhe, alte Kleider, Bücher, was auch immer.»
Auch Vildana Mutevelić kochte damals auf einem Feuer aus Büchern, Möbeln, Schuhen, Kleidern. Und wenn sie die Wohnung im Dunkeln verlassen musste, war sie froh, wenn sie noch einen Plastiklöffel auftreiben konnte. Der, so fand sie schnell heraus, diente gut als kurzzeitige Taschenlampe, wenn man ihn anzündete.