Steigende Corona-ZahlenWie viel Schuld trägt die UEFA?
Von Anne Funk
2.7.2021
Volle Stadien trotz Pandemie – für die UEFA kein Widerspruch. Doch Gesundheitsexperten schlagen wegen steigender Corona-Zahlen Alarm – und geben dem Verband eine Mitschuld an künftigen Todesfällen.
Von Anne Funk
02.07.2021, 17:01
Anne Funk
Die Nati ist auf Erfolgskurs! Ein Fest nicht nur für eingefleischte Fussball-Fans, die ganze Schweiz ist ausser sich, so weit schaffte es unsere Nationalmannschaft das letzte Mal an der WM 1954.
Ohnehin ist die Europameisterschaft aktuell eine willkommene Ablenkung von den Sorgen der Corona-Pandemie, endlich wieder ins Stadion, endlich wieder gemeinsam anfeuern und jubeln. Doch so viel Freude das auf der einen Seite bedeutet, so gross ist die Sorge, dass Europa die Folgen schwer zu spüren bekommen wird.
«Sicherlich Hunderte infiziert»
«Die UEFA ist für den Tod von vielen Menschen verantwortlich», schrieb der deutsche Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach (SPD) nach dem Achtelfinalspiel Deutschland gegen England auf Twitter und warnt damit vor ebendiesen Folgen.
Das Spiel habe noch einmal gezeigt, wie eng die Fans stehen, wie oft sie sich umarmten und anschrien. «Es haben sich sicherlich Hunderte infiziert und diese infizieren jetzt wiederum Tausende», so der Gesundheitsexperte weiter.
Das Spiel hat gestern nochmal gezeigt wie eng die Fans stehen, wie oft sie sich umarmen und anschreien. Es haben sich sicherlich Hunderte infiziert und diese infizieren jetzt wiederum Tausende. Die UEFA ist für den Tod von vielen Menschen verantwortlich. https://t.co/ruL9FBqPYF
Seine Sorge ist offensichtlich nicht unbegründet: Nach offiziellen Angaben lassen sich zum Beispiel in Schottland knapp 2000 Corona-Fälle direkt in Verbindung mit Spielen der EM bringen.
Fans tragen Infektionen ins Heimatland
«Zwischen dem 11. und 28. Juni 2021 wurden 1991 Personen mit Wohnsitz in Schottland und einer bestätigten Covid-19-Infektion identifiziert, die eines oder mehrere Spiele oder Veranstaltungen der Euro 2020 während ihrer infektiösen Phase besucht hatten», heisst es in einem Bericht der schottischen Gesundheitsbehörde Public Health Scotland.
Das bedeute, dass die Menschen in dieser Zeit unwissentlich ihre Infektion auf andere übertragen haben könnten. Diese Fälle betreffen dabei nicht nur den Besuch von Spielen, sondern auch informelle Anlässe wie das gemeinsame Schauen eines Spieles im Pub oder bei einer Party zu Hause.
Schottland ist kein Einzelfall: Finnische Behörden meldeten nach dem Spiel Finnland gegen Belgien in St. Petersburg, dass mindestens 300 Zuschauer positiv getestet wurden.
Gefahr allzu grosser Sorglosigkeit
Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht die Menschenmassen bei der EM als einen Grund für den Wiederanstieg der Corona-Zahlen in Europa und warnte angesichts der Delta-Variante vor Sorglosigkeit.
Während viele Menschen noch keinen vollen Impfschutz hätten, gebe es trotzdem schon sehr viele grosse Zusammenkünfte. «Die Veranstaltungen werden Konsequenzen haben», warnte Maria Van Kerkhove, führende Corona-Expertin der WHO, vergangene Woche in Genf.
Schon jetzt seien Ansteckungen aufgetreten. Im Zusammenhang mit Spielen der Fussball-EM in Kopenhagen und St. Petersburg sind nach Angaben von Behörden und Medien bereits Dutzende Corona-Infektionen festgestellt worden, darunter auch einige mit der Delta-Variante.
Nach Wochen fallender Zahlen ist nun wieder ein Anstieg zu verzeichnen, erklärte auch Hans Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, am Donnerstag in einer Mitteilung. «Die Zahl der Fälle ist um zehn Prozent gestiegen, getrieben durch vermehrte Vermischung, Reisen, Versammlungen und die Lockerung der sozialen Beschränkungen.»
UEFA sieht Verantwortung bei lokalen Behörden
Für die UEFA sind die steigenden Zahlen allerdings kein Grund, Spiele der Europameisterschaft abzusagen oder strengere Massnahmen vorzuschreiben. «Alle verbleibenden Spiele der UEFA EURO 2020 werden wie geplant gemäss dem Spielplan stattfinden», erklärt der Verband auf Nachfrage von «blue News».
Die Massnahmen an den EM-Austragungsorten seien vollständig auf die Vorschriften der zuständigen lokalen Gesundheitsbehörden abgestimmt. Wie viele Fans letztendlich die Spieler im Stadion unterstützen, darauf habe die UEFA keinen Einfluss.
«Die endgültigen Entscheidungen in Bezug auf die Anzahl der Fans, die Spiele besuchen, und die Einreisebestimmungen für jedes der Ausrichterländer und Ausrichterstadien liegen in der Verantwortung der zuständigen lokalen Behörden.» Die UEFA befolge strikt diese Massnahmen.
Nati bekommt Unterstützung von Viola Amherd
Ob es noch verantwortungsbewusst ist, dieser Tage für den Besuch eines EM-Spieles über Grenzen zu reisen, diese Frage musste sich auch Bundesrätin Viola Amherd gefallen lassen. Anlässlich der Medienkonferenz zum Kampfjet-Entscheid erklärte sie auf die Frage einer Journalistin, dass sie zum Spiel nach St. Petersburg reisen werde.
«Wir werden selbstverständlich sämtliche Massnahmen gesundheitlicher Art vorkehren, damit keine Ansteckung passiert.» Auch sei Amherd zweimal geimpft. «Von daher gibt das schon eine gewisse Sicherheit.» Man werde sich mit FFP2-Masken, Einhalten der Abstandsregeln und allem, was es braucht, in St. Petersburg bewegen.
Die Reise Amherds nach St. Petersburg scheint also gut durchdacht. Auch SP-Nationalrat Matthias Aebischer sieht darin kein Problem, wie er beim «SRF» erklärt. Stattdessen sei die Veranstaltung in ihrer Durchführung selbst fragwürdig.
EM – eine fragwürdige Veranstaltung?
«Man kann schon sagen, dass das System dieser EM – die Spiele in verschiedenen Städten durchzuführen – kein ideales ist während einer Pandemie oder während des Abklingens einer Pandemie.» Doch grundsätzlich gelte ja, dass nur ins Stadion darf, wer getestet, geimpft oder genesen ist – und das müsse kontrolliert werden.
Einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Corona-Zahlen und den EM-Spielen sieht die UEFA jedenfalls nicht zwingend als gegeben und zitiert auf Nachfrage von «blue News» ihren medizinischen Berater Daniel Koch.
«Es ist nicht völlig auszuschliessen, dass Veranstaltungen und Versammlungen zu einer lokalen Erhöhung der Fallzahlen führen könnten», so die Aussage. Doch gelte dies nicht nur für Fussballspiele, sondern auch für alle Situationen, die im Rahmen der beschlossenen Lockerungsmassnahmen nun erlaubt seien.
«Die europaweit ausgerollten intensiven Impfkampagnen und die Grenzkontrollen werden dazu beitragen, dass keine neue grosse Welle in Europa beginnt und die jeweiligen Gesundheitssysteme unter Druck setzt, wie dies bei den vorherigen Infektionswellen der Fall war.»
«Schande für den Sport»
Gesundheitsexperte Karl Lauterbach ist da allerdings anderer Meinung. Die UEFA sei verantwortlich für zahlreiche Todesfälle, schreibt er auf Twitter. «Die UEFA lässt es zu, dass die Delta-Variante über volle Stadien weiter zunimmt.» Dies sei eine «Schande für den Sport».
Die UEFA lässt es zu, dass die Delta Variante über volle Stadien weiter zunimmt. Damit übernimmt sie die Verantwortung für zahlreiche Todesfälle. Eine Schande für den Sport. https://t.co/pbMq9oX2KT
Immerhin sieht die UEFA inzwischen teilweise Handelsbedarf – wenn auch auf Initiative anderer. Aus Sorge um die Ausbreitung der Delta-Variante haben die italienischen Behörden die UEFA um Ergreifung von Massnahmen hinsichtlich des Viertelfinalspiels in Rom gebeten. Dort spielen am Samstag die Ukraine und England um den Einzug ins Halbfinale.
Wie die UEFA am Donnerstag mitteilte, werde der Ticketverkauf für Fans aus Grossbritannien gestoppt. Die seit dem 28. Juni an britische Bürger verkauften Tickets sollen annulliert werden, bereits an Briten verkaufte Tickets könnten an Personen mit Wohnsitz in Italien weiter- oder zurückgegeben werden.