Leben im besetzten Cherson «Wir lassen uns nicht vertreiben»

Andrea Moser

7.11.2022

Ukraine: an der Front in Cherson

Ukraine: an der Front in Cherson

Bilder von der Frontlinie im Raum Cherson. Die Ukraine will alle von Russland annektierten Gebiete zurückerobern. Die Region Cherson im Süden des Landes ist hart umkämpft. Die russischen Truppen haben sich eingegraben und weichen nicht weiter zurück.

27.10.2022

Seit acht Monaten besetzen russische Truppen Cherson. Nun droht die südukrainische Stadt, zwischen die Fronten zu geraten. Trotzdem gibt es Menschen, die sich gegen die Flucht entscheiden. Einer davon ist Denis.

Andrea Moser

Ein Auto fährt durch die Strassen der südukrainischen Stadt Cherson. Auf dem Dach ist ein Lautsprecher montiert. Eine Stimme fordert die Menschen auf, die Stadt zu verlassen. Viele Bewohnerinnen und Bewohner sind dem Aufruf gefolgt. Ein Teil jedoch bleibt.

Einer davon ist Denis. Wie er in Wirklichkeit heisst, bleibt aber geheim. Denn Denis lebt gefährlich: «Ich lasse mich nicht vertreiben», erzählt er dem britischen «Guardian».

Vor mehr als acht Monaten wurde Cherson von den Russen eingenommen. Ende September annektierte Moskau das Gebiet völkerrechtswidrig nach einem Scheinreferendum. Die ukrainischen Streitkräfte wollen das Gebiet nun zurückerobern. Erst am Wochenende haben schwere Kämpfe die Region einmal mehr erschüttert.

Abgesehen von den Autos mit den Lautsprechern auf dem Dach sind die Strassen in Cherson wie leergefegt. Spätestens ab 15 Uhr würden sich die Menschen jeweils zu Hause verschanzen, berichtet Denis. Zu gross sei die Angst vor einem Angriff.

Ein Bild der Zerstörung zeigt sich in der nördlichen Region von Cherson am 6. November. Am Wochenende kam es erneut zu schweren Kämpfen.
Ein Bild der Zerstörung zeigt sich in der nördlichen Region von Cherson am 6. November. Am Wochenende kam es erneut zu schweren Kämpfen.
Bild: Keystone

Cherson werde von den Russen ausgeraubt. Feuerwehrautos, Ambulanzen und Bürostühle: Nichts sei sicher, erzählt Denis. Sogar die Fenster des Rathauses seien entfernt worden.

«Sie können in deine Wohnung einbrechen und alles mitnehmen»

Sicher fühle er sich in Cherson nicht. Er lebt mit dem Gedanken, dass russische Soldaten ihn jederzeit auf der Strasse festnehmen. Diese Erfahrung hat Denis bereits gemacht: Russische Soldaten hielten ihn für einen Waffenbesitzer. «Sie schlugen mich zusammen und warfen mich ins Gefängnis.» Während er hinter Gittern gesessen sei, hätten die Russen seine Sachen kontrolliert. Als sie nichts Belastendes gefunden hätten, sei er unter Hausarrest wieder freigelassen worden.

Nicht nur auf der Strasse, auch in den eigenen vier Wänden sei in Cherson niemand sicher, sagt Denis. «Sie können in deine Wohnung einbrechen, sie durchsuchen und alles mitnehmen.» Auch diese Erfahrung habe er bereits gemacht. Russische Soldaten hätten in seinen Sachen gewühlt. Ausserdem sei er in einer Datscha in der Nähe der Antonovsky-Eisenbahnbrücke festgehalten worden. «Sie dachten, wir sind Waffenbesitzer.»

«Man muss sich irgendwie beschäftigen»

Er habe sich an den Zustand gewöhnt, sagt Denis. Die Lebensbedingungen seien in gewisser Weise normal. Wasser und Strom sei vorhanden, die Heizung funktioniere. Sogar der Abfall werde abgeholt.

Ausserdem hätten drei Apotheken in der Stadt geöffnet. Es sind die einzigen. Er selbst brauche jedoch keine Medikamente. Nur Lebensmittel und Wasser. Lebensmittel gibt es weiterhin zu kaufen, die Preise würden aber täglich steigen.

«In der besetzten Stadt vergehen die Tage langsam und eintönig. Man muss sich irgendwie beschäftigen.» Zum Beispiel Traubensaft herstellen. Elf Liter habe er in einer Woche gemacht. Sechs Stunden lang. Die Trauben hat er von einer Datscha. Ansonsten treffe er Bekannte und Arbeitskollegen. Morgens geht er einkaufen. Ab und zu hat er, wenn auch nur kurz, Verbindung zum Internet.

«Ich verstecke mich nicht!»

Trotz der angespannten Situation in Cherson bleibt Denis. Diejenigen, die die Stadt verlassen wollten, sind gegangen. Da es keine humanitären Korridore gegeben habe, sei die Ausreise entweder sehr teuer gewesen, oder man habe ein eigenes Auto gebraucht.

Beides kam für Denis nicht infrage. Darum lebt er weiterhin in seinem Zuhause. Zusammen mit seinem Kater. Für ihn ist klar: «Ich verstecke mich nicht!»

Mit Material der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.