Politologin erklärt die USA «Wir sind näher am Bürgerkrieg, als viele glauben möchten»

Von Helene Laube, San Francicso

23.1.2022

«Die Schweiz ist nunmehr die älteste kontinuierliche Demokratie der Welt», sagt die US-Politologin Barbara F. Walter mit Blick auf die Zustände in ihrem Land – und will nicht einmal einen Bürgerkrieg ausschliessen.

Von Helene Laube, San Francicso

Vor einem Jahr erstürmten gewalttätige Anhänger Donald Trumps das US-Parlament, um die Wahl von Joe Biden zu verhindern und den im November 2020 abgewählten Präsidenten an der Macht zu halten. Barbara F. Walter, Politologin an der University of California, San Diego, erklärt, warum ein Bürgerkrieg in der Wiege der modernen Demokratie denkbar ist – und zwar nicht erst seit dem 6. Januar.

Walter ist eine der weltweit führenden Expertinnen in innerstaatlichen Konflikten, Terrorismus und gewalttätigem Extremismus. In ihrem neuen «New York Times»-Bestseller «How Civil Wars Start and How to Stop Them» warnt sie davor, den Rückzug der Demokratie und gewalttätigen Extremismus zu ignorieren.

Zur Person:
Bild: DelMar Photographics/Barbara F. Walter

Barbara F. Walter ist Professorin für Politikwissenschaften an der University of California, San Diego, und ständiges Mitglied der in New York ansässigen Denkfabrik Council on Foreign Relations. Sie ist Mitgründerin des Blogs «Political Violence At a Glance». Ihr neues Buch «How Civil Wars Start and How to Stop Them» erscheint am 23. Januar 2023 bei Hoffmann&Campe auf Deutsch.

Frau Walter, in Ihrem neuen Buch schreiben Sie, dass «Amerika viel näher am Bürgerkrieg ist als viele von uns glauben möchten». Wie kamen Sie zu diesem für viele sicher überraschenden Schluss?

Ich muss etwas ausholen. Ich erforsche seit 30 Jahren Bürgerkrieg in Ländern in Afrika und Südostasien, im Nahen Osten oder in Nordirland. Also nie innerhalb der USA, weil dazu lange kein Grund bestand. Von 2017 bis 2021 war ich Teil der CIA-Beratergruppe Politicial Instability Taskforce. Unsere Aufgabe war die Ausarbeitung eines Vorhersagemodells, mit dem die US-Regierung antizipieren kann, wo auf der Welt Länder und Regierungen politisch instabil werden und politische Gewalt auftreten könnte. Es kristallisierte sich zu unserer Überraschung heraus, dass bei den von Bürgerkriegen heimgesuchten Ländern, die alle sehr unterschiedlich sind, einem innerstaatlichen Konflikt immer wieder die gleichen zwei Faktoren vorausgehen. Ich nahm dann als Privatperson mein eigenes Land in den Fokus, weil ich diese Warnzeichen auch hier sah.

Welche zwei Faktoren sind das?

Erstens, dass es sich bei den Ländern um Anokratien handelt, also Teildemokratien mit Regierungen mit demokratischen und autokratischen Elementen. In einer Demokratie auf dem Rückzug wird die Exekutive und der Präsident im Vergleich zu anderen Teilen der Staatsgewalt immer mächtiger, das Wahlrecht wird beschnitten, die Pressefreiheit eingeschränkt. Wird die Demokratie auf diese und andere Arten immer mehr zerlegt, gerät ein Land in einen instabilen und gewaltanfälligen Mittelbereich. Unsere Taskforce stellte fest, dass in vollständigen Demokratien und Autokratien selten Bürgerkriege ausbrechen – dieser Mittelbereich hingegen ist gefährlich.

Und der zweite Faktor?

Wir sahen auch, dass es eine grosse Rolle spielt, ob sich Bürger in diesen Teildemokratien nicht um eine politische Ideologie herum organisieren, wie das die Norm in einer gesunden Demokratie ist, sondern um ethnische Zugehörigkeit, Religion und/oder Volksgruppen herum. Ihre Partei will unter Ausschluss und auf Kosten anderer Bevölkerungsgruppen regieren. Ihr Ziel ist der Machtausbau, nicht Machtteilung. Ein klassisches Beispiel dafür sind die Geschehnisse im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren.

Was passiert in den USA, was einen Bürgerkrieg möglich macht?

Die USA galten während fast ihrer gesamten Geschichte als vollwertige Demokratie. Aber 2016 begann die Schwächung unserer Demokratie. Das gemeinnützige Center for Systemic Peace stufte die USA damals zum ersten Mal herab. Unter anderem weil die Präsidentschaftswahlen gemäss internationalen Wahlbeobachtern zwar frei aber nicht fair waren. 2019 wurden wir weiter herabgestuft, weil die Exekutive ...

Präsidentschaftskandidat Donald Trump im April 2016 in Rochester im Bundesstaat New York.
Präsidentschaftskandidat Donald Trump im April 2016 in Rochester im Bundesstaat New York.
Bild: Keystone

... unter dem damaligen Präsident Donald Trump ...

... sich weigerte, dem Kongress im ersten Impeachment-Verfahren Informationen auszuhändigen. Das zeigte, dass die Exekutive unkontrollierbar wird und die Legislative unterbuttern kann, was undemokratisch ist. Zum Ende der Trump-Regierung, Anfang 2021, wurden die USA dann zum ersten Mal seit 1800 zu einer Anokratie herabgestuft, weil der abgewählte Präsident das Wahlergebnis nicht anerkannte und es zu kippen versuchte – es kam zum Sturm auf das Parlament am 6. Januar.

Darauf folgte die friedlichen Machtübergabe an Joe Biden.

Ja, damit wurden die USA wieder etwas aufgewertet. Aber wir sind noch nicht wieder eine vollständige Demokratie – und die Schweiz ist nunmehr die älteste kontinuierliche Demokratie der Welt.

Zum zweiten Faktor: Haben die USA heute eine ethnische Faktion, deren Ziel der Ausschluss aller anderen Gruppen ist?

Absolut. Eine der zwei grossen US-Parteien ist zu einer auf Ethnie basierten Faktion geworden.

Die Erstürmung des US-Kapitols am 6. Januar 2021: «Ein Teil der weissen Bevölkerung ist der Ansicht, dass Amerika ein weisses, christliches Land ist und rechtmässig ihr gehört – und diese Leute sind bereit, ihr Vormachtstellung mit Gewalt zu erhalten.»
Die Erstürmung des US-Kapitols am 6. Januar 2021: «Ein Teil der weissen Bevölkerung ist der Ansicht, dass Amerika ein weisses, christliches Land ist und rechtmässig ihr gehört – und diese Leute sind bereit, ihr Vormachtstellung mit Gewalt zu erhalten.»
Bild: Keystone/EPA/Jim Lo Scalzo

Sie sprechen von der Republikanischen Partei.

Genau. Noch 2008 stimmten weisse Amerikaner mit fast genauso hoher Wahrscheinlichkeit für die Demokraten wie für die Republikaner. Das änderte sich nach der Wahl Barack Obamas, als die weisse Arbeiterschicht sich zur Republikanischen Partei hinzubewegen begann. Heute sind 90 Prozent der Wähler der Republikanischen Partei Weisse und überwiegend Evangelikaner. Die Partei setzt alles daran, jene zu entrechten, die nicht republikanisch wählen – und das in einem sehr heterogenen Land mit zahlreichen Religionen. Bedient eine Partei in einem Zweiparteiensystem eine ethnische Gruppe und eine Religion auf Kosten aller anderen, dann ist das nach Definition der Taskforce eine ethnische Faktion und der zweite grosse Prädiktor für politische Gewalt.

Wie sähe ein Bürgerkrieg in den USA aus? Die meisten Amerikaner denken dabei ja eher an die Schlachten des «Civil War» zwischen 1861 und 1865, nicht an Irland oder Israel, wo die Menschen mit ziemlich regelmässigen Terrorangriffen leben lernen mussten.

Wir sehen hier seit Jahren – seit Obamas Wahl 2008 – die explosionsartige Zunahme von organisierten und bewaffneten Milizen, die sich mehrheitlich am rechten Ende des Spektrums bewegen. Es sind vor allem gewalttätige Extremisten, die die Ideologie der Vorherrschaft von Weissen verfechten. Der Rest ist überwiegend Anti-Bundesregierung, und es gibt Überlappungen. Wir hatten bereits einige gewalttätige Übergriffe, etwa den Angriff auf eine Synagoge in Pittsburgh 2018 oder die Erschiessung von neun schwarzen Menschen durch einen Rassisten in einer Kirche in Charleston 2015. Wir bewegen uns schnell auf das Stadium des offenen Aufstands zu, in dem regelmässig Attacken stattfinden. Kommt es zu einem Bürgerkrieg, so wird er dezentralisiert sein und von zahlreichen Milizen und paramilitärischen Gruppen in verschiedenen Regionen ausgetragen werden – koordiniert und manchmal unkoordiniert.



Also unkonventionelle Methoden und inländischer Terrorismus?

Genau. Eine Bombe hier, eine Massenerschiessung dort. Die Angriffsziele sind nicht Regierungssoldaten, sondern Zivilisten auf belebten Plätzen, Beamte, Richter, Schwarze Kirchen, Synagogen, Infrastruktur, ein Ikea in einer Grossstadt.

Was ist das Problem dieser Bürger? Warum ist Gewalt für sie ein Weg – und wohin soll der führen?

Amerika durchläuft gerade einen grossen Wandel weg von einer weissen Mehrheit hin zu einer nicht-weissen Mehrheit – um 2045 wird das erreicht sein. Ein Teil der weissen Bevölkerung will das nicht akzeptieren. Sie sind der Ansicht, dass Amerika ein weisses, christliches Land ist und rechtmässig ihr gehört – und diese Leute sind bereit, ihr Vormachtstellung mit Gewalt zu erhalten. Das passt zu dem, was wir über Bürgerkriege wissen: Sie werden meist nicht von den ärmsten Bürgern oder Einwanderern begonnen, sondern von jenen, die dominierten und den Machtverlust fürchten.

Trump baute seine gesamte Präsidentschaft im Kern auf «white supremacy» auf, der Idee von weisser Überlegenheit: Rechte Amerikaner protestieren am 14. November 2020 gegen den Regierungswechsel.
Trump baute seine gesamte Präsidentschaft im Kern auf «white supremacy» auf, der Idee von weisser Überlegenheit: Rechte Amerikaner protestieren am 14. November 2020 gegen den Regierungswechsel.
Bild: Keystone

Inwiefern instrumentalisiert die Republikanische Führung das für ihre Zwecke?

Sie ist absolut bereit, die amerikanische Demokratie auseinanderzunehmen, um an der Macht zu bleiben. Das beobachten wir mit der Lüge über die gestohlene Wahl, den seit Jahren immer zahlreicheren Gesetzen, um demokratische Wähler und Minderheiten von der Urne fernzuhalten oder der Wahlkreisgeometrie. Die Republikanische Führung weiss, dass sie die Partei für Weisse – vor allem weisse Christen – ist. Wenn eine solche Partei nicht zusätzliche Wählergruppen anspricht, dann funktioniert für sie eine auf dem Prinzip «ein Bürger, eine Stimme» basierende Demokratie nicht. Das weiss die republikanische Führung, anstatt Politik für unterschiedliche Gruppen zu machen, entscheidet sie: Lasst uns die Demokratie loswerden. Lasst uns eine Regierung errichten, die sicherstellt, dass wir an die Macht kommen und die Macht behalten, auch wenn wir die weisse, evangelikanische Minderheit repräsentieren.

Wie sprechen sie die Wähler an?

Indem sie den Durchschnittsamerikaner, der republikanisch wählt, überzeugen, dass die Wahl gefälscht, das System manipuliert und gegen ihn ist. Sie schüren Ressentiments und Ängste vor Statusverlust.

Was muss unternommen werden, dass es nicht zu einem Bürgerkrieg kommt?

Wir müssen unsere demokratischen Institutionen stärken. Die «checks and balances» müssen erweitert werden, also die Gewichte, die verhindern, dass ein einzelner oder einzelne Bereiche wie die Exekutive zu viel Macht erlangen. Wir sollten die Wahlgesetze und die Wahlkampffinanzierung reformieren und beispielsweise das Wahlleutegremium abschaffen und vor allem garantieren, dass jeder Bürger das Wahlrecht hat. Aber die Republikaner wollen das nicht.



Mit politischen Reformen von oben und somit einer Stärkung der Demokratie ist also nicht zu rechnen?

Nein. Die Republikaner hätten dadurch nichts zu gewinnen, und die Demokraten, die Reformen wollen, haben nicht genügend Stimmen, um diese durchzubringen. Also müssen wir Bürger Druck machen – indem wir wählen. 2020 war die Wahlbeteiligung sehr hoch, aber 80 Millionen Wahlberechtigte gingen nicht an die Urne. Würden diese Bürger wählen, könnten wir die Zusammensetzung des Senats und des Repräsentantenhauses ändern – und dann hätten die Demokraten vielleicht die nötigen Stimmen, um Reformen durchzubekommen.

Und wenn das nicht gelingt?

Es gibt hervorragende Forschung von Erica Chenoweth von der Harvard  Kennedy School über die Wirksamkeit von friedlichen Protesten. Die amerikanische Bevölkerung sieht den Angriffen auf unsere Demokratie bisher ziemlich gelassen zu – und Autokraten und Demagogen nützen das aus. Trump und die Führung der Republikaner begrüssen das. Aber sollten die Amerikaner friedliche Massenproteste organisieren, würde es für die Republikaner schwierig, wie gehabt weiterzumachen.



Welche Rolle spielen soziale Medien bei dieser Entwicklung?

Im Buch beschreibe ich, wie soziale Medien als Brandbeschleuniger für Gewalt agieren, nicht nur beim Rückgang von Demokratie weltweit, sondern auch bei der Zunahme von Hass und ethnischem Faktionalismus hier in Amerika. Die Mehrheit der Amerikaner informieren sich in den sozialen Medien. Und bekanntlich füttern soziale Medien ihre Nutzer via Empfehlungssystem Material, das ihre bestehenden Überzeugungen bestätigt und den Eindruck einer permanenten Krise und somit ein Gefühl der Verzweiflung befördert. Überdies füttert das Empfehlungssystem die Nutzer mit immer extremeren Ansichten, Missinformation, Desinformation und Lügen. Zahlreiche Amerikaner, auch viele, die das Kapitol am 6. Januar stürmten, glauben deshalb tatsächlich, dass es ihre patriotische Pflicht ist, Amerika zu retten. Und sie glauben das, weil alle Informationen, die sie beziehen, diese Ansicht vertreten. Keiner sagt ihnen die Wahrheit, auch ihre politischen Anführer, ihr bevorzugter Fernsehsender Fox News und andere rechtslastige Medien nicht.

Was kann dagegen unternommen werden?

Das einfachste wäre soziale Medien zu regulieren. Nicht die Inhalte, sondern in welchem Umfang Plattformen die schlimmstmöglichen Inhalte verzögerungsfrei und weltweit verbreiten können. Damit radikalisieren und spalten sie die Gesellschaft. Die Plattformen sollten keine Megafone für die Verteilung der schlimmsten Inhalte online sein können. Genau das tun deren Algorithmen aber, weil dieses Material die Aufmerksamkeit der Nutzer am meisten fesselt. Also schlagen die Algorithmen laufend solche Inhalte vor, die die Nutzer möglichst lange auf der Plattform halten, denn das ist ihr Geschäftsmodell. Für sie gibt es keinen Anreiz, das zu ändern.

Am 6. Januar twitterten Sie etwas kontrovers, dass der Kapitolsturm ein «Geschenk» für das amerikanische Volk gewesen sei.

Ja, denn damit kam das, was seit Jahren im Schatten lauerte, ans Licht. Jetzt können unsere Politiker und Bürger die Entwicklungen am rechten Rand und das schnelle Wachstum des rechtsextremen Spektrums in diesem Land nicht mehr leugnen und ignorieren. Es gibt uns Zeit, Alarm zu schlagen und die Reformen in Gang zu setzen, die uns retten werden. Vor dem 6. Januar gab es gewaltige blinde Flecken. Ich begann 2018 mit meinem Buchkonzept. Wenn ich Leuten davon erzählte, schauten sie mich mitleidig an. Sie dachten, ich hätte den Verstand verloren. Heute kapieren die Leute, dass unsere Demokratie in Gefahr ist. Sie sehen und spüren es. Joe Biden und andere Politiker sprechen endlich offensiv über die Notwendigkeit einer demokratischen Reform.

Ihre Mutter wuchs in der Nähe von Frauenfeld auf und emigrierte 1958 nach New York, ihr Vater kam nach dem Zweiten Weltkrieg von Bayern nach Amerika. Sie schreiben, dass Ihr kanadischer Mann nach der Wahl 2020 Ihre Schweizer, kanadischen und anderen Pässe erneuern liess, damit Sie notfalls nach Kanada oder in die Schweiz fliehen können. Haben Sie heute noch solche Befürchtungen?

Wir haben nicht die Absicht, dieses Land zu verlassen. Wir wollen hierbleiben und bei der Transformation Amerikas mithelfen.

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