US-Strategie im Ukraine-Konflikt «Wir teilen alles, was wir wissen»

Von Oliver Kohlmaier

19.2.2022

Antony Blinken (l.), Aussenminister der USA, und Sergej Lawrow, Aussenminister von Russland, bei einem Treffen im Januar.
Antony Blinken (l.), Aussenminister der USA, und Sergej Lawrow, Aussenminister von Russland, bei einem Treffen im Januar.
Bild: Alex Brandon/Pool AP/dpa (Archivbild)

Propaganda, Desinformation, Cyberangriffe: Lange hatten die USA kaum eine Antwort auf die hybride Kriegsführung Russlands im Ukraine-Konflikt. Und jetzt?

Von Oliver Kohlmaier

19.2.2022

Militärisch ist die Lage in der Ukraine noch nicht eskaliert, rhetorisch jedoch fahren die Beteiligten täglich schwere Geschütze auf. Es wird gewarnt, gedroht — und getäuscht.

So sah sich die ukrainischen Führung Anfang Februar genötigt, auf ungeprüfte Informationen aus anonymen Quellen und deren Gefahren hinzuweisen. Das Ziel psychologischer Kriegsführung sei es, Angst und Panik in der Gesellschaft zu schüren.

Die USA und ihre westlichen Partnerstaaten verweisen regelmässig auf Falschmeldungen und Propaganda aus Russland. Allerdings: Die Mahnung aus dem ukrainischischen Verteidigungsministerium war an die Vereinigten Staaten gerichtet, wenn auch ungenannt. 

Sie bezog sich auf einen Reuters-Artikel, der drei aktuelle und frühere «US-Beamte» zitiert. Russland würde nun auch Blutkonserven zu den Truppen an der Grenze bringen, was laut den anonymen Quellen die Sorge vor einer Invasion erhöhe.

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, beschwerte sich mehrfach auch über die westlichen Partnerstaaten. Diese würden Panik verbreiten.
Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, beschwerte sich mehrfach auch über die westlichen Partnerstaaten. Diese würden Panik verbreiten.
Bild: Kay Nietfeld/dpa

Selbst der ukrainische Präsident Selenskyj hat seine westlichen Partnerstaaten bereits zur Mässigung aufgefordert. Natürlich gebe es angesichts der russischen Truppen vor der Grenze Risiken, erklärte er vergangenen Samstag. «Der grösste Feind» der Ukraine sei derzeit jedoch «Panik in unserem Land». Die permanenten «Informationen» zu möglichen russischen Invasionsplänen würden dabei nicht helfen.

Hybride Kriegsführung

Russland hat seine Methode der hybriden Kriegsführung in den letzten Jahren immer weiter ausgebaut. Ebenso lange hatte der Westen dem nur wenig entgegenzusetzen. 

Die Bezeichnung für Russlands Vorgehensweise trat im Zusammenhang mit der Annexion der Krim 2014 erstmal häufiger auf. Aus Fachkreisen hiess es schon damals, die NATO sei unzureichend gewappnet gegen diese Form der Kriegsführung. Der renommierte Historiker und Osteuropa-Experte Timothy Snyder legt in seinem Buch «Der Weg in die Unfreiheit» detailliert dar, wie raffiniert Russland unter dem ehemaligen Geheimdienstler Putin vorgeht.



Mit einer Kombination aus Propaganda nach innen und aussen, gezielten Desinformationskampagnen sowie Cyberangriffen treibt Russland die Ukraine und den Westen vor sich her.

Politologe Laurent Goetschel zur Kriegsgefahr in der Ukraine

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Neue US-Strategie

Die USA unter Barack Obama wirkten dabei mitunter hilflos. Im derzeitigen Informationskrieg jedoch scheint sich das Blatt gewendet zu haben. Die US-Regierung passte ihre Strategie an und stellt sich den Narrativen aus Russland aggressiv entgegen.

Laut dem Direktor der ukrainischen Organisation «StopFake» begegnen die Vereinigten Staaten damit Russland auf eigenem Territorium. Dem US-Sender CBS News sagte Ruslan Deynychenko: «Ich glaube, es ist eine der ersten Male, dass wir eine wirksame Antwort Washingstons und seiner europäischen Partner auf diese hybride Bedrohung durch Russland gesehen haben.»

In den letzten Tagen verkündeten die USA mehrfach, ein russischer Angriff stehe unmittelbar bevor. Flankiert waren die Aussagen von handfesten Massnahmen. US-Bürger*innen wurden bereits aufgefordert, die Ukraine zu verlassen, ausserdem die amerikanische Botschaft von Kiew nach Lemberg verlegt.

Des Weiteren überraschen US-Offizielle die Weltöffentlichkeit seit Wochen mit der gezielten Preisgabe von Geheimdienstinformationen. Erst am Donnerstag erneuerte US-Aussenminister Blinken vor dem UN-Sicherheitsrat den Vorwurf, Russland suche im Ukraine-Konflikt nach einem Vorwand, um das Land anzugreifen.

Ein solcher könne  «ein gewaltsames Ereignis sein, das Russland gegen die Ukraine vorbringen wird, oder eine unerhörte Anschuldigung, die Russland gegen die ukrainische Regierung erheben wird», erklärte Blinken.

Dieser Vorwurf ist ein zentraler Bestandteil der US-Strategie. Pentagon-Sprecher John Kirby ging Anfang Februar ins Detail: Russland plane demnach die Produktion eines Propagandavideos, das einen inszenierten Angriff der Ukraine auf Russland oder russischsprachige Menschen in der Ukraine zeigen solle. «Wir haben solche Aktivitäten der Russen bereits in der Vergangenheit gesehen», sagte Kirby.

Auch die Briten machen mit

Die britische Regierung schlägt in die gleiche Kerbe: Sie warf Russland Ende Januar in einer beispiellosen Warnung vor, in der Ukraine eine pro-russische Regierung installieren zu wollen.

Im Mittelpunkt der Theorie steht der Ex-Abgeordnete Jewhenij Murajew. Nicht nur bei diesem selbst sorgte die Behauptung für Verwunderung. Das britische Aussenministerium scheine «durcheinander» zu ein, so Murajew. Auch in der Ukraine hielt man dieses Szenario für unwahrscheinlich. Laut des ukrainischen Journalisten Denis Trubetskoy etwa verfüge Murajew bei den zerstrittenen pro-russichen Separatisten über wenig Einfluss. 

«Wir teilen alles, was wir wissen»

Wer letztlich Recht hat, gerät dabei in den Hintergrund. Das Ziel der neuen Kommunikationsstrategie ist es, Russland von einem Angriff abzuhalten. Durch frühzeitige Preisgabe von Geheimdienstinformationen soll der russischen Führung gleichsam der Wind aus den Segeln genommen werden.

Insbesondere beim mehrfach wiederholten Vorwurf, Russland konstruiere einen Vorwand für einen Angriff, begibt sich die US-Regierung kommunikativ in gefährliches Fahrwasser. Schliesslich haben die Vereinigten Staaten einst selbst ihre Glaubwürdigkeit massiv beschädigt.

Unvergessen, wie der damalige US-Aussenminister Collin Powell dem UN-Sicherheitsrat falsche Beweise für Massenvernichtungswaffen im Irak vorlegte, um einen Angriff der USA zu rechtfertigen.

Darauf wies unlängst auch ein Reporter der Nachrichtenagentur Associated Press bei einer Medienkonferenz hin — es folgte ein fünfminütiges Wortgefecht mit dem Sprecher des Aussenministeriums.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin jedenfalls hält das Vorgehen seines Landes für hilfreich: «Wir teilen alles, was wir wissen», sagte er am Donnerstag.



Russland reagiert mit Sarkasmus

Auf die ständigen Störfeuer vor allem aus Washington und London reagiert Russland derweil mit Sarkasmus und Spott. Besonders beliebt bei russischen Funktionären: Die Warnungen und Drohungen des Westens und insbesondere der USA als panisch und hysterisch zu etikettieren.

Als der von den USA für Mittwoch vorausgesagte Angriff Russlands nicht erfolgte, war die Häme auf russischer Seite gross. Man möge doch bitte den Zeitplan für die kommenden russischen «Invasionen» verkünden, forderte eine Sprecherin des russischen Aussenmministeriums auf Facebook. Sie würde gerne ihren Urlaub planen.



Der Westen redet in München mit sich selbt

Gleichwohl verhandeln die USA und Russland weiterhin miteinander. Die Münchner Sicherheitskonferenz jedoch startete am Freitag erstmals seit Jahrzehnten ohne Russland, das keine Delegation nach Deutschland schickte. 

Zum Auftakt warnte UN-Generalsekretär António Guterres vor einer «unkalkulierbaren Eskalation» im Ukraine-Konflikt. Diese könne auch durch Kommunikationspannen und Fehlannahmen ausgelöst werden.

US-Aussenminister Tony Blinken zumindest nahm am Freitag eine Einladung seines Amtskollegen Sergey Lawrow an — natürlich unter einer Bedingung: Russland darf bis zum Treffen Ende kommender Woche nicht in der Ukraine einmarschiert sein.