Schwere Finanzkrise Wirtschaftskollaps im Libanon treibt Tausende in die Armut

AP/toko

21.3.2021

Eine Frau protestiert in Beirut gegen die hohen Lebensmittelpreise.
Eine Frau protestiert in Beirut gegen die hohen Lebensmittelpreise.
KEYSTONE/EPA/WAEL HAMZEH

Jahre der Korruption kulminierten in einer schweren Finanzkrise. Dann kam auch noch die Corona-Pandemie hinzu – und eine Explosion, die Teile der Hauptstadt zerstörte. Der Libanon steht vor dem Staatsbankrott. Viele Bewohner haben kaum noch genügend Nahrung.

Geschäfte schliessen, Unternehmen geben auf. In den Apotheken leeren sich die Regale, in Supermärkten prügeln sich Kunden um knappe Vorräte an Milch, Reis und Speiseöl. Viele Libanesen, die bis vor Kurzem noch ein bequemes Leben führen konnten, müssen nun um ihre Existenz fürchten. Eine von ihnen ist Nisrine Taha. Die Krise hat ihren Alltag auf den Kopf gestellt. Und ein Ausweg aus der Misere ist nicht in Sicht.

Vor fünf Monaten verlor Taha ihren Job bei einer Immobiliengesellschaft, für die sie viele Jahre gearbeitet hatte. Ihre 21-jährige Tochter ist ebenfalls arbeitslos. Ihr Ehemann hat zwar noch ein Einkommen. Doch dieses hat 90 Prozent an Wert verloren, weil die nationale Währung quasi ins Bodenlose gestürzt ist. Die Familie ist seit sieben Monaten nicht mehr in der Lage, die Miete zu zahlen. Und Taha weiss, dass die Geduld des Vermieters nicht ewig währen wird.

Nahrungsmittel werden unerschwinglich

Doch damit nicht genug: Seit Beginn der Krise sind die Preise nach oben geschnellt. Selbst einige Nahrungsmittel sind für die Familie unerschwinglich geworden. «Alles ist sehr teuer», sagt Taha. «Ich kann mich nicht erinnern, wann wir das letzte Mal Fleisch gegessen haben. Ich kann es mir nicht leisten.» Die Mahlzeiten würden jetzt hauptsächlich aus Linsen, Reis und Bulgur bestehen.

Bis vor wenigen Jahren hatte die Wirtschaft des Landes noch halbwegs stabil gewirkt. Doch im Hintergrund hatte sich eine korrupte Elite über Jahrzehnte in fast allen Branchen selbst bedient. Ende 2019 war der Zusammenbruch nicht mehr zu vermeiden. Die Ausbreitung des Coronavirus verschärfte die Lage zusätzlich. Im vergangenen August folgte dann auch noch eine Explosion im Hafen von Beirut, bei der die angrenzenden Stadtviertel schwer beschädigt wurden.

Hunderttausende Menschen leben seitdem in Armut – nach Angaben der Weltbank mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung. Unter den Betroffenen sind auch viele, die bis 2019 noch zur Mittelschicht gehört hatten. Das Libanesische Pfund hat allein in den vergangenen paar Wochen mehr als 25 Prozent an Wert verloren. Die Inflation ist ausser Kontrolle geraten. Die Ersparnisse vieler Menschen haben sich in Luft aufgelöst.

Viele Libanesen sind wütend, weil das Land die Wirtschafts- und Währungskrise nicht in den Griff bekommt.
Viele Libanesen sind wütend, weil das Land die Wirtschafts- und Währungskrise nicht in den Griff bekommt.
KEYSTONE/EPA/WAEL HAMZEH

Auch politisch steckt das Land in einer Sackgasse. Kurz nach der verheerenden Explosion im August war das Kabinett zurückgetreten.Seitdem ist das Land ohne Regierung – und damit ohne jegliche Strategie zur Überwindung der Krise. Auf den Strassen kommt es immer öfter zu Gewalt. Auch die Spannungen zwischen den verschiedenen Konfessionen nehmen zu. «Menschen sterben, und keinen interessiert es!», sagt Taha.

«Schlimmer kann es nicht werden»

Besonders offensichtlich ist der Niedergang in der Rue Hamra, eine der sonst angesagtesten Geschäftsstrassen in der Innenstadt von Beirut. Viele der dortigen Cafés und Boutiquen sind geschlossen. Einige befinden sich wegen eines Lockdowns in einer Zwangspause. In manchen Fällen haben die Besitzer aber auch dauerhaft aufgegeben. In den wenigen Geschäften, die noch geöffnet sind, beklagen die Händler, dass sie kaum noch etwas verkaufen würden.

«Schlimmer kann es nicht werden», sagt der 59-jährige Ibrahim Simmo, der ein Kleidungsgeschäft betreibt. Im Vergleich zu früheren Jahren sei der Umsatz um 90 Prozent eingebrochen. Auf seinen Winterkollektionen sei er wegen des knapp zwei Monate langen Lockdowns zum Jahresbeginn fast komplett sitzen geblieben. Aktuell mache ihm vor allem der Währungsverfall zu schaffen.

Der Lederwaren-Händler Ibrahim Farschuch sagt, er könne kaum die Miete für seinen Ladenraum aufbringen. Manchmal halte seine Frau im Geschäft die Stellung, während er mit einigen Waren auf die Strasse gehe, um sie dort Passanten anzubieten. «Die Situation ist nicht auszuhalten», klagt der 28-Jährige.

Weil die meisten Menschen im Libanon ihre Gehälter in der Landeswährung ausgezahlt bekommen, hat die Kaufkraft im Land extrem nachgelassen. Wegen der Finanzkrise sind zugleich die Devisenreserven stark geschrumpft. Experten warnen daher, dass die Zentralbank bald nicht mehr in der Lage sein werde, bisher geleistete Subventionen für einige grundlegende Güter wie etwa Treibstoff zu stemmen.

Schlägereien um subventionierte Lebensmittel

In den Sozialen Medien kursieren derweil Videos aus Supermärkten, in denen Kunden im Kampf um noch verbliebene subventionierte Lebensmittel mit Fäusten aufeinander losgehen. Andere Aufnahmen zeigen, wie bewaffnete Sicherheitskräfte innerhalb eines Supermarktes die Ausweise von Kunden kontrollieren, bevor sie ihnen je einen Beutel mit subventioniertem Reis aushändigen.

Nabil Fahd, Leiter des örtlichen Verbands der Supermarkt-Besitzer, sagte dem libanesischen Sender MTV, dass viele Menschen inzwischen Produkte horten würden, weil der Nachschub nicht gesichert sei. Wenn eine Ware ausverkauft sei, müssten Ladenbetreiber für neue Lieferungen in der nationalen Währung gerechnet deutlich mehr bezahlen, betonte er. Dies sei eine «sehr, sehr ernste Krise».

Viele Libanesen sind wegen der Krise ins Ausland gegangen. Assem Schueib, der einst für eine führende Zeitung in Beirut arbeitete, war schon im Jahr 2000 mit seiner Familie nach Frankreich gezogen, wo er in der Nähe von Paris ein libanesisches Restaurant eröffnete. Als er kürzlich bei einem Heimatbesuch durch die Rue Hamra ging, sah sich der 59-Jährige in seiner damaligen Entscheidung bestätigt. «Es war klar, dass das Land auf einen Zerfall zusteuerte», sagt er.