Tanzbarer Italo-Pop und Urlaubs-Rap haben im Sommer oft Hochsaison. Doch 2020 sitzen viele italienische Musiker in Isolation fest. Home-Studios und Kanäle wie der US-Videodienst Twitch sind angesagt. Aber trotzdem: Etwas fehlt.
Sonne, Strand und gute Laune – danach klingen italienische Sommerhits. Pop-Duos wie Benji & Fede und Takagi & Ketra haben in den Vorjahren mit solchen Dance-Hits gepunktet. Liebeserklärungen, etwa von Eros Ramazzotti und Gianna Nannini, fördern ebenfalls «Dolce Vita»-Gefühle.
Doch ist so ein beschwingter Hit im Sommer 2020 aus Italien vorstellbar, im Jahr des Corona-Desasters? Aus dem Land, wo das Virus seit Februar in Europa zuerst und mit tödlicher Wucht zuschlug?
Zucchero sitzt am Flügel. «Es herrscht grosse Stille», singt der 64-jährige Italo-Rocker. Das Video zeigt ihn einsam vor dem Kolosseum in Rom. Es ist ein dunkler Abend im April. In normalen Zeiten umlagern Touristen den antiken Bau. Im Mai dreht Zucchero ein weiteres Video, einsam am Flügel auf dem leeren Markusplatz in Venedig. Sein Song «Amore Adesso» stammt eigentlich von den US-Musikern Michael Stipe (R.E.M.) und Aaron Dessner (The National).
Mit einem ähnlichen Auftritt, genannt «Music for Hope», am Mailänder Dom erzielte Klassik-Star und Tenor Andrea Bocelli (61) seit Ostern rund 40 Millionen YouTube-Aufrufe.
Italien, das Land, in dem Singen zum Lebensgefühl gehört, sucht musikalisch nach einer Antwort auf die Corona-Isolation. Ausgangsverbote, die länger und härter sind als in vielen anderen Regionen, haben die Kulturbranche fast in die Knie gezwungen. Keine Konzerte, keine Festivals, stattdessen Do-it-yourself-Aufnahmen. Für Musiker wie Zucchero geht es dabei nicht nur um Gagen, sondern um den Kontakt zum Publikum.
«Es ist eine Zeit, in der man in der Luft hängt, ein Augenblick der Ungewissheit», beschreibt der Sänger seine Stimmung. Am Telefon erzählt er, wie er die Corona-Monate auf seinem Landsitz in Pontremoli im Norden der Toskana verbringt. «Ich versuche, kreativ zu sein», sagt er. «Ich suche nach Ideen, um andere Menschen zu erreichen.» Er vermisse den Austausch: «Mir fehlt das Gefühl der Umarmung mit dem Publikum. Ich hoffe, ich kann bald wieder auf Tournee gehen.»
Seine italienische Version «Amore Adesso» spielte er im Home-Studio ein. Dann schickte er die digitalen Aufnahmen zur Produktion weiter ins benachbarte Ligurien, wie er erzählt.
Digital ist vieles machbar. Das zeigen auch am Computer zusammengebaute Chor- und Klassikvideos aus aller Welt. Doch je grösser die Rolle der Technik wird, desto offensichtlicher scheint nicht nur im Musikland Italien, dass vielen etwas fehlt: Nähe.
«Der Künstler lebt von dem Wechselspiel mit seinem Publikum und seiner Community», sagt Udo Dahmen, Direktor an der Popakademie in Mannheim. «Dieser Dialog kann heutzutage zumindest bis zu einem gewissen Grad auch über das Internet gelingen.» Er bleibe jedoch etwas Einseitiges, was vom Künstler ausgehe.
«Streaming scheint die Idee der Stunde», beschreibt Dahmen einen Trend. Doch das Übertragen von Musik aus dem Wohnzimmer, was auch in Italien boomt, hat viele Haken. Weder vermittelt es das volle Live-Erlebnis, noch greifen ausgefeilte Bezahlmodelle – und teils sinken sogar die Zuschauerzahlen.
«Das Schreckliche an diesem Virus ist die Einsamkeit», schrieb die 63-jährige Rocksängerin Gianna Nannini im März beim Onlinedienst Instagram. Sie kündigte eine Konzertübertragung aus ihrem Zuhause in Mailand an. Rapper Fedez (30) klang zerrissen zwischen Solidarität für Corona-Opfer und Frust, als er «Zeit Online» sagte: «Die Tage sind wie eine Achterbahnfahrt. Wir fühlen abwechselnd Entmutigung und dann wieder Zusammenhalt.»
«Auf dem italienischen Musikmarkt herrscht gerade grosse Konfusion», erläutert Christoph Storbeck, deutscher Musikmanager, Mit-Veranstalter des sizilianischen Ypsigrock Boutique-Festivals und für die Mailänder Fachmesse Linecheck zuständig. «Keiner weiss, wohin es künstlerisch so richtig geht. Finanziell geht es erstmal den Bach runter, ohne Live, bei eingebrochenen Plattenverkäufen und sogar gering zurückgehenden Streamingzahlen.»
Technisch hat etwa die Plattform Twitch, die eher für Spiele bekannt war, bei Musik an Gewicht zugelegt. Das bestätigt eine Sprecherin des US-Videoportals für eine Reihe von Ländern. Twitch biete Echtzeit-Resonanz beim Streaming.
Abgesehen von der Technik: Italien-Experte Storbeck kann nicht erkennen, dass sich der Musikgeschmack durch die Corona-Krise geändert hat. «Rap, Trap und Hip-Hop auf Italienisch dominieren weiterhin die Charts durch jüngere, aktive Musikkonsumenten.» Da es der Industrie schlecht gehe, werde sich das auf die kreative Produktion auswirken. «Da ist optimistischer Gute-Laune-Pop im Moment schwer vorstellbar. Auch wenn es schwierig zu sagen ist, da viele Veröffentlichungen auf 2021 verschoben sind.»
Ist ein Sommerhit aus Mailand oder Palermo also trotz Corona zu erwarten? Der Pop-Fachmann Dahmen meint: «Ein Sommerhit ist heutzutage weitgehend eine stark kalkulierte Produktion.» Er brauche bestimmte Bestandteile, etwa Strandfeeling, Latin oder Samba, ein Video. «Daher ist ein Sommerhit auch jetzt noch möglich, immer bei entsprechender Imagination.»
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