Neues Gesetz kennt kein Pardon Der geringste Widerstand führt hinter russische Gitter

Von AP-Korrespondenten

18.4.2022 - 11:30

Kein Pardon: In Russland kann bereits die leiseste Kritik ins Gefängnis führen. (Symboldbild)
Kein Pardon: In Russland kann bereits die leiseste Kritik ins Gefängnis führen. (Symboldbild)
KEYSTONE/Alessandro della Valle

Eine Kunstaktion im Supermarkt, eine kritische Predigt, ein Plakat ohne Worte: In Russland kann inzwischen schon die leiseste Kritik am Krieg in der Ukraine zur Festnahme führen. Menschenrechtler sprechen von einem beispiellosen Vorgehen.

Von AP-Korrespondenten

Ein Ex-Polizist, der am Telefon über die russische Invasion spricht. Ein Pfarrer, der vor seinen Gläubigen über das Leid der Ukrainer predigt. Ein Student, der ein Plakat ohne Worte hochhält: Wie diesen drei Männern drohen hunderten Russen und Russinnen Anklagen, weil sie sich kritisch über den Krieg in der Ukraine geäussert haben. Grundlage ist ein im vergangenen Monat erlassenes Gesetz, das die Verbreitung von «falschen Informationen» über die Invasion sowie Verunglimpfungen der russischen Streitkräfte unter Strafe stellt.

Wegen des Vorwurfs «falscher Informationen», der mit einer Gefängnisstrafe geahndet werden kann, wurden nach Angaben von Menschenrechtlern bislang mindestens 23 Menschen strafrechtlich verfolgt. Mehr als 500 Menschen wurden wegen der weniger schwerwiegenden Anschuldigung, das Militär verunglimpft zu haben, bereits zu hohen Geldstrafen verurteilt oder müssen damit rechnen. Damir Gainutdinow, Leiter der Rechtshilfe-Gruppe Net Freedoms, sprach von einer beispiellosen Zahl an Fällen.

Der Kreml bemüht sich seit Beginn der Invasion um die Aufrechterhaltung seines eigenen Narrativs: Die Regierung bezeichnet den Angriff als «Sonder-Militäroperation» und erhöhte den Druck auf unabhängige russische Medien, die von einem «Krieg» oder einer «Invasion» sprachen. Sie blockierte den Zugang zu vielen Nachrichtenseiten, deren Berichterstattung von der offiziellen Linie abwich.

Festnahmen statt Proteste

Mittels massenhafter Festnahmen unterdrückte der Kreml Anti-Kriegs-Demonstrationen. Von täglichen Kundgebungen in grossen Städten wie Moskau und St. Petersburg blieben nur noch vereinzelte Proteste mit wenigen Teilnehmern übrig. Dennoch wird weiterhin fast jeden Tag über einzelne Festnahmen in verschiedenen Städten des Landes berichtet, zum Teil aufgrund scheinbar harmloser Aktionen.

So wurde in der Hauptstadt ein Mann in Gewahrsam genommen, nachdem er neben einem Denkmal aus dem Zweiten Weltkrieg gestanden hatte, mit dem an den Widerstands Kiews gegen Nazi-Deutschland erinnert wurde. Er trug zudem eine Ausgabe von Leo Tolstois Roman «Krieg und Frieden» bei sich. Ein weiterer Mann wurde Berichten zufolge festgesetzt, weil er eine Packung Kochschinken des Herstellers Miratorg bei sich hatte, auf der die zweite Hälfte des Namens durchgestrichen war: So blieb das Wort «Mir» stehen, russisch für «Frieden».

Die ersten bekanntgewordenen Strafsachen nach dem kurzfristigen Inkrafttreten des neuen Gesetzes gegen «Fakes» richteten sich gegen Personen des öffentlichen Lebens wie die russischsprachige Kochbuch-Autorin und bekannte Bloggerin Veronika Belotserkovskaya, die im Ausland lebt, und den Fernsehjournalisten, Filmregisseur und ehemaligen Abgeordneten Alexander Newsorow. Beide wurden beschuldigt, auf ihren Social-Media-Seiten «falsche Informationen» über russische Angriffe gegen die zivile Infrastruktur in der Ukraine gepostet zu haben. Moskau dementiert dies vehement und beharrt darauf, dass die russischen Streitkräfte sich auf militärische Ziele beschränkten.

Zehn Jahre Gefängnis für «Fake-News»

Doch dann verschärfte die Polizei ihr Vorgehen, ihre Festnahmen wirken seitdem fast willkürlich. Der ehemalige Polizist und gebürtige Ukrainer Sergej Klokow wurde in Untersuchungshaft genommen, nachdem er nach Angaben seiner Frau in Telefonaten mit Freunden den Krieg verurteilt hatte. Klokow wird die Verbreitung von Falschinformationen vorgeworfen, er könnte dafür bis zu zehn Jahre ins Gefängnis müssen.

Diese Strafe droht auch der Künstlerin Sascha Skolitschenko aus St. Petersburg. Sie hatte Preisschilder in einem Supermarkt durch Anti-Kriegs-Flyer ersetzt. Am Mittwoch ordnete ein Gericht für sie eineinhalb Monate Untersuchungshaft an.

Der russisch-orthodoxe Priester Ioann Burdin wurde wegen «Diskreditierung der russischen Streitkräfte» zu einer Geldstrafe von 35 000 Rubel (knapp 400 Euro) verurteilt. Der Geistliche aus einem Dorf etwa 400 Kilometer nordöstlich von Moskau hatte zuvor eine Erklärung gegen den Krieg auf der Website seiner Kirche veröffentlicht. In einem Gottesdienst hatte er ausserdem vor einem Dutzend Gläubigen über seinen Schmerz angesichts des Sterbens in der Ukraine gepredigt.

Marat Gratschew, Inhaber eines Reparaturladens für Apple-Produkte in Moskau, bekam ebenfalls Ärger, weil er auf einem Bildschirm in seinem Geschäft einen Link zu einer Online-Petition unter dem Motto «Nein zum Krieg» gezeigt hatte. Wegen Verunglimpfung des Militärs verurteilte ein Gericht ihn zu einer Geldbusse in Höhe von 100 000 Rubel.

Ein anderes Gericht entschied gegen den Moskauer Studenten Dmitri Resnikow: Er hatte Mitte März bei einer Protestaktion in der Hauptstadt für wenige Sekunden ein weisses Blatt Papier mit acht Sternchen darauf gezeigt. Diese könnten im Russischen für die Worte «Nein zum Krieg» stehen, einen beliebten Slogan von Demonstranten. Wegen Diskreditierung der Streitkräfte wurde Resnikow zur Zahlung von 50 000 Rubel verurteilt. «Das ist Absurdes Theater», sagt sein Anwalt Oleg Filatschew.

Rechtsbeistand Gainutdinow erklärt, jede Äusserung über das Militär oder die Ukraine könne einen Menschen zur Zielscheibe der Behörden machen. Selbst das Tragen eines Hutes in den ukrainischen Farben oder eines grünen Bandes als Friedenssymbol sei schon als Verunglimpfung der Streitkräfte gedeutet worden.