Opfer von Medikamententests gab nicht auf «25'000 Franken sind nicht viel für ein verpfuschtes Leben»

Samuel Walder

15.9.2024

Blick auf die psychiatrische Klinik am Bodensee in Münsterlingen. (Archivbild)
Blick auf die psychiatrische Klinik am Bodensee in Münsterlingen. (Archivbild)
sda

3000 Menschen wurden von Psychiater Roland Kuhn zwischen 1946 und 1980 für seine Medikamententests missbraucht. Der eiserne Wille von Ex-Patient Walter Emmisberger bringt nun etwas Erleichterung. 

Samuel Walder

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Von 1946 bis 1980 testete Psychiater Roland Kuhn dutzende nicht zugelassene Medikamente.
  • Die Patient*innen haben nie das Einverständnis gegeben und seien teils ein ganzes Leben lang von den Tests geschädigt.
  • Durch die Hartnäckigkeit des betroffenen Walter Emmisberger erhalten tausende Opfer eine Entschädigung.

Der Psychiater Roland Kuhn aus Münsterlingen testete Pharma-Substanzen an 3000 Menschen. Wie der «Blick» schreibt, sollen die Opfer jetzt ihre Entschädigung erhalten – und das nur wegen eines Mannes. 

Walter Emmisberger (68) hat durch einen über zehnjährigen Kampf vielen Opfern von Behördenwillkür zu einer gewissen Genugtuung verholfen. Der Kanton Thurgau zahlt 25'000 Franken an die Opfer der Medikamententests in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen. 

Emmisberger wohnt in Fehraltorf ZH und leidet an wiederkehrenden Panikattacken. Früher habe er tagelang seine Wohnung nicht verlassen können. Noch heute wache er mitten in der Nacht wegen Albträumen auf und will sich verstecken. 

Das hat seine Gründe. Ihm wurde sein ganzes Leben lang immer wieder wehgetan. Wie der Blick schreibt: Kinderheime, bei verschiedenen Bauersleuten untergebracht, wo er hart arbeiten musste, und schliesslich bei Pfarrleuten in Aadorf TG. Das Schlimmste aber, das Allerschlimmste, sei die Klinik Münsterlingen im gleichnamigen Ort im Kanton Thurgau passiert. Emmisberger wurde dem Arzt und Klinikdirektor Roland Kuhn (1912–2005) von den Pfarrleuten sozusagen «zur Verfügung gestellt», um die Wirkung von Chemikalien zu erproben.

Tests an Erwachsenen, Kindern und an Jungendlichen

In der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen testete Kuhn von 1946 bis 1980 an rund 3000 unwissenden Patient*innen zum Teil aus Eigeninteresse, zum Teil im Auftrag diverser Pharmafirmen über 67 verschiedene unerprobte Substanzen. 

Weiter soll Kuhn auch Kinder und Jugendliche unter den Testpersonen gehabt haben. Teilweise soll der Psychiater absurd hohe Dosen verabreicht haben, wie ein Blick in die Akten verrät. 

Im «Blick» heisst es, dass an Emmisberger allein in den 1960er-Jahren sieben verschiedene Wirkstoffe getestet worden sind und das über einen Zeitraum von zwei Jahren. 

Unter den getesteten Medikamenten war ein nie veröffentlichter Wirkstoff (G22 150) der Firma Ciba sowie der Wirkstoff G34 276, der 1972 als Antidepressivum Maprotilin/Ludiomil zugelassen wurde. Der Test des Stoffes G35 259 wurde 1970 von Geigy gestoppt. Zudem wurden Tegretol und Luminaletten, beides Epilepsiemittel, eingesetzt, obwohl in den Akten vermerkt war, dass Walter Emmisberger nicht an Epilepsie litt. Weiter wurden die Antidepressiva Anafranil, vorwiegend bei Zwangsstörungen, und Tofranil, auch gegen Angst- und Panikstörungen, getestet. 

Es gibt eine ganze Liste über die Nebenwirkungen der verschiedenen Wirkstoffe. Zum Beispiel können Menschen, die solche Wirkstoffe einnehmen, an Herzrhythmusstörungen leiden, Sprachstörungen, Benommenheit, Erinnerungslücken und Weiteres aufweisen. Einige dieser Nebenwirkungen weist Emmisberger auf. 

Die hartnäckige Art zahlt sich aus

Immer wieder versuchte der 68-Jährige, an die Akten der damaligen Psychiatrie zu gelangen. Zuerst hiess es, das ginge nicht. Emmisbergers Hartnäckigkeit führte schliesslich dazu, dass ein Anwalt Akteneinsicht erhielt. Nach jahrelangen Anfragen fand ein Mitarbeiter der Kanzlei 45 Kisten mit Patientenakten im Keller der Klinik. Diese enthielten unter anderem Emmisbergers Geschichte. Die Dokumente wurden gesichtet und in der Studie «Testfall Münsterlingen» von Historiker*innen aufgearbeitet.

Die Akten belegen, dass Emmisberger in seiner Kindheit täglich hart arbeiten musste, sowohl bei den Pfarrleuten, bei denen er lebte, als auch auf Bauernhöfen in den Ferien.

Statt Hilfe erhielt er jedoch unerforschte Medikamente in hohen Dosen. So musste er 1968 sechs Tabletten Ketotofranil einnehmen, was stark sedierend wirkte und ihn zum Erbrechen brachte. Als Nebenwirkungen wie motorische Probleme auftraten, wurde einfach ein anderes Medikament verabreicht, ohne auf die eigentliche Ursache einzugehen.

Kein Einverständnis der Patienten

Emmisberger, wie auch andere Patienten, gab niemals sein Einverständnis zu den Medikamententests. Wie der damalige Arzt Kuhn 1989 in einem Brief an einen Medizinhistoriker schrieb: «Wir haben Patienten nie um ihre Einwilligung gefragt.» Die Testpersonen waren meist besonders verletzliche Mitglieder der Gesellschaft – darunter Kinder aus Heimen, Jugendliche in Erziehungsanstalten und Verdingkinder.

Trotz des Widerstands kämpfte Emmisberger jahrelang gegen die Schweizer Behörden und erreichte, dass die Opfer der Versuche eine Entschädigung erhalten. Der Kanton Thurgau zahlte 25'000 Franken pro Person, während die ehemalige Firma Ciba, heute Novartis, vier Millionen Franken beisteuerte. Emmisberger sieht dies jedoch nur als Teilerfolg: «25'000 Franken sind nicht viel für ein verpfuschtes Leben, und viele Betroffene sind bereits gestorben.» Zudem hätten die Pharmafirmen viel mehr bezahlen müssen, da sie weiterhin hohe Gewinne mit den getesteten Substanzen erzielen.

Obwohl Emmisbergers Name bei der offiziellen Ankündigung der Entschädigungen nicht erwähnt wurde, bleibt sein Engagement unvergessen. Seinem unermüdlichen Einsatz ist es zu verdanken, dass die Opfer von Münsterlingen nicht in Vergessenheit geraten sind.