Schweiz - EU Abkommen von Feigenblatt zu Kristallkugel

SDA

15.1.2019 - 17:43

Expertinnen und Experten beantworten Fragen der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates zum Rahmenabkommen mit der EU. Die Anhörung öffentliche Anhörung dauerte drei Stunden.
Expertinnen und Experten beantworten Fragen der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates zum Rahmenabkommen mit der EU. Die Anhörung öffentliche Anhörung dauerte drei Stunden.
Source: KEYSTONE/PETER KLAUNZER

Das Rahmenabkommen mit der EU spaltet nicht nur die Politik. Auch Expertinnen und Experten bewerten es unterschiedlich. Das zeigte die öffentliche Anhörung in der aussenpolitischen Kommission des Nationalrats (APK).

Das Schiedsgericht: ein Verhandlungserfolg für die Schweiz oder ein Feigenblatt? Die dynamische Rechtsübernahme: notwendig für die Teilnahme am europäischen Binnenmarkt oder das Ende der Unabhängigkeit? Um solche Fragen drehte sich die Diskussion, welche die Öffentlichkeit am Fernsehen oder auf dem Youtube-Kanal des Parlaments mitverfolgen konnte.

Es war das erste Mal seit 2003, dass eine Parlamentskommission eine öffentliche Anhörung durchführte. APK-Präsidentin Elisabeth Schneider-Schneiter (CVP/BL) begründete das Vorgehen am Dienstag mit der grossen Bedeutung des Themas für die Zukunft der Schweiz.

Schiedsgericht als "Feigenblatt"

Den Anfang machte SVP-Nationalrat Roger Köppel (ZH). Er richtete seine Frage an Paul Widmer, alt Botschafter und Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen. Köppel wollte wissen, ob das Abkommen nicht den bilateralen Weg beenden würde. Widmer verneinte zwar. Er hat aber grösste Vorbehalte, besonders zum Streitbeilegungsmechanismus mit dem Schiedsgericht.

Carl Baudenbacher, ehemaliger Präsident des Efta-Gerichtshofs, teilt diese Meinung. Er bezeichnete das Schiedsgericht als "Feigenblatt" und "Scheinschiedsgericht". Die Schweiz habe es der EU nicht abgerungen, sagte Baudenbacher. Es sei auch nicht massgeschneidert, sondern kopiert aus Abkommen mit der Ukraine, Georgien und Moldawien. Mit dem Schiedsgericht werde eine einseitige Abhängigkeit vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) geschaffen.

Ständiges Damoklesschwert

Aus Sicht der Kritiker ist besonders die Verknüpfung der dynamischen Rechtsübernahme mit dem Schiedsgerichtsmechanismus problematisch. Wenn die Schweiz etwa Nein zur Unionsbürgerrichtlinie sage, könnte die EU diese via Schiedsgericht durchdrücken, da sich dieses an die Auslegung des EuGH halten müsse, sagte Widmer.

Er sieht auch Gefahren für die direkte Demokratie. Sollte die Schweiz künftig ein Urteil des Schiedsgerichts nicht umsetzen wollen, könne die EU als Reaktion einzelne bilaterale Verträge suspendieren. Damit werde das Schweizer Stimmvolk öfter unter dem "Damoklesschwert" einer Kündigung stehen. Die Schweiz müsse hier unbedingt nachverhandeln.

Beim Text bleiben

Der Chefunterhändler der Schweiz, Staatssekretär Roberto Balzaretti, mahnte, bei dem zu bleiben, was im Abkommen tatsächlich stehe. "Suspendierung" sei nicht dasselbe wie "Kündigung", betonte er. Und die Unionsbürgerrichtlinie sei im Abkommen nicht erwähnt, weil noch nicht klar sei, ob die Schweiz sie übernehmen werde oder nicht. Eine Übernahme würde nach den im Abkommen vorgesehenen Verfahren ablaufen.

Auch die Europarechtsprofessorinnen Christa Tobler und Astrid Epiney sowie Europarechtsprofessor Matthias Oesch widersprachen Widmer und Baudenbacher. Die Unionsbürgerrichtlinie könne nicht gegen den Willen der Schweiz ins Abkommen aufgenommen werden, sagte Tobler. Das Schiedsgericht wertet sie als Erfolg für die Schweiz.

Preis für Binnenmarkt-Teilnahme

Epiney betonte, das Schiedsgericht entscheide selber, ob es dem EuGH etwas vorlege oder nicht. Gleichzeitig gab sie zu bedenken, dass die Schweiz gewissermassen am Binnenmarkt der "anderen" teilnehme, einem Markt mit harmonisierten Bedingungen. Daher sei es unumgänglich, den EuGH in der Streitbeilegung einzubinden.

Darauf wies auch Oesch hin: Die dynamischen Rechtsübernahme sei der Preis für die mitgliedstaatsähnliche Teilnahme am Binnenmarkt. Die Schweiz erhielte ausserdem wesentliche Mitspracherechte. Und sie hätte weiterhin das Recht, Nein zu sagen. Oesch gab ferner zu bedenken, das Schiedsgericht und der EuGH würden immer gestützt auf dasjenige Recht entscheiden, zu dem die Schweiz Ja gesagt habe.

Andere Konzessionen als Lohnschutz?

Fragen stellten die Kommissionsmitglieder auch zum Lohnschutz. Sibel Arslan (Grüne/BS) wollte etwa wissen, ob es denkbar wäre, anstelle von Konzessionen beim Lohnschutz der EU Konzessionen bei der Unternehmensbesteuerung anzubieten.

Epiney erwiderte, sie halte das für wenig wahrscheinlich. Es gehe um Binnenmarktabkommen, und diese hätten eine gewisse innere Logik. Zum Lohnschutz stellte sie fest, alle würden das Prinzip "gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort" anerkennen.

Kosten einer Ablehnung

FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann (ZH) und FDP-Nationalrätin Christa Markwalder (BE) brachten den Preis eines Neins zum Rahmenabkommen zur Sprache. Die EU hat angekündigt, die bilateralen Verträge nicht weiterzuentwickeln, falls die Schweiz das Rahmenabkommen ablehnt.

Wirtschaftsexperte Marc Bros de Puechredon von BAK Economics wies auf Berechnungen zum grossen wirtschaftlichen Schaden bei einem Wegfall der Bilateralen hin. Auch die Unsicherheit schade der Wirtschaft, stellte er fest. Je länger sie dauere, umso mehr könnte es kosten.

Keine Kristallkugel

Claude Béglé (CVP/VD) warf die Frage auf, wie gross die Chancen auf ein besseres Abkommen wären, wenn das vorliegende abgelehnt würde. Dazu sagte Epiney: "Leider habe ich keine Kristallkugel." Sie wies indes auf Vorteile des vorliegenden Abkommens hin: Künftig müsste die EU Streitigkeiten mit der Schweiz dem Streitbeilegungsverfahren unterstellen und könnte nicht mehr auf anderem Wege Druck machen.

Der Bundesrat hatte das Verhandlungsergebnis zum institutionellen Abkommen am 7. Dezember veröffentlicht, ohne eindeutig Position zu beziehen. Laut Balzaretti wird er am Mittwoch oder in einer der nächsten Sitzungen die Konsultation eröffnen und den Text in allen Landessprachen veröffentlichen, samt Erläuterungen. Entscheiden will der Bundesrat vor dem Sommer.

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