Der Mann mit der Fliege tritt abClaude Longchamp: «Wir wurden etwas wenig bürgerlich, aber nicht links»
Von Alex Rudolf
18.2.2024
Vor über 30 Jahren gründete Claude Longchamp sein Meinungsforschungsinstitut. Per März verlässt er den Verwaltungsrat und geniesst fortan den Ruhestand. blue News gibt er noch ein letztes Interview.
Von Alex Rudolf
18.02.2024, 12:36
Alex Rudolf
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Über 30 Jahre begleitete Politologe Claude Longchamp die Wahlen und Abstimmungen in der Schweiz.
Nun blickt er gemeinsam mit blue News zurück.
Welche Parteien sind am besten aufgestellt für die Zukunft und welche müssen noch an sich arbeiten? Longchamp gibt Auskunft.
Herr Longchamp, vor über 30 Jahren gründeten Sie das Gfs Bern. Inwiefern tickt die Schweiz heute politisch anders als damals?
Claude Longchamp: Die 1990er-Jahre waren durch die EWR-Abstimmungen geprägt, das war der grösste Donnerschlag der Nachkriegszeit für die Schweiz. Bis 2002 hatten jene, welche die Beziehungen kitten wollten, politisch Oberhand. Dies kippte aber in den folgenden Jahren, weil die Europa-Frage auch mit der Asyl-Frage vermengt wurde. Das macht die SVP zur stärksten Partei – zwischen Oppositions- und Regierungspartei.
Die SVP war nach der Abwahl Christoph Blochers in der Opposition.
2007 bis 2009 war sie ganz oppositionell und bis 2015 halb. Das war gegen das System der Konkordanzdemokratie, aber die grösste Politik-Geschichte der vergangenen dreissig Jahre.
Wie beeinflusst es die Politik heute?
Ein bürgerliches Lager, das es in den 1970er- bis in die 1990er-Jahre gegeben hatte, gab es plötzlich nicht mehr. Seither beanspruchen drei Parteien, bürgerlich zu sein und eine Führungsrolle im bürgerlichen Lager zu übernehmen. Heute gehen die SVP, die Mitte und die FDP eher ihre eigenen Wege. Allianzen sind meist taktischer Natur.
Welche Partei hat die grösste Chance auf die Führung bei den Bürgerlichen?
Natürlich die SVP, die so gross ist, wie die FDP und die Mitte zusammen. Eine Pol-Partei ist aber nicht sonderlich gut geeignet für diese Aufgabe, da die Schweizer Politik auf Konkordanz und Konsens ausgerichtet ist. Sach- aber auch Stilfragen zeigten die Unterschiede zwischen der FDP und der Mitte sowie der SVP in den vergangenen Jahren deutlich auf.
Sie sagen auch, dass sich die Kommunikation enorm verändert hat. Wie meinen Sie das?
Sinnbildlich gesprochen geht man in der Politik heute nicht mehr in ein grosses Warenhaus, um einzukaufen, sondern geht zu mehr oder weniger kleinen Lädeli. Je nachdem, wo man sich derzeit am wohlsten fühlt. Will heissen: Die grossen Medienhäuser sind am Zerbröseln, ohne dass eine breite Alternative entstanden ist.
Seit den Wahlen 2019 sind mehr Frauen in der nationalen Politik vertreten. Welchen Einfluss hat dies?
Die Frauen sind nicht erst seit den Wahlen 2019 mächtig. Immerhin hatten wir eine Frauen-Mehrheit im Bundesrat in den Jahren 2010 und 2011. Das war ein Novum, das im 20. Jahrhundert noch undenkbar war. Der denkwürdigste Entscheid, welchen die vier Frauen wahrscheinlich gegen die drei Männer trafen, war wohl der Ausstieg aus der Atom-Energie. Das wäre mit einer Männer-Mehrheit nicht möglich gewesen, denke ich.
Wir befinden uns in einem Entwicklungsschritt von einer Alte-Männer-Politik hin zu einer Politik beider Geschlechter. In einzelnen Kantonen wie Neuenburg gibt es im Parlament sogar eine Frauen-Mehrheit, genau so wie in einzelnen Städten wie etwa in Bern. Wir sind noch in der Entwicklungsphase.
Am 3. März stimmt die Schweiz über zwei AHV-Vorlagen ab. Jener für eine 13. AHV-Rente werden dabei gute Chancen eingeräumt – ein Novum. Wurde die Schweiz linker?
Ich zweifle daran. Verschiedene Untersuchungsergebnisse besagen, dass sich im 20-Jahres-Vergleich eine Zentrums-Position etablierte. Insbesondere die heutige Mitte und die GLP sind damit gemeint. Diese politische Mitte entscheidet nach Situation mal links mal rechts. Was in den vergangenen Jahren abgenommen hat, ist die Glaubwürdigkeit der Wirtschaftsverbände und der Arbeitgeberverbände. Diese Positionen sind heute nicht mehr so unbestritten, wie sie es früher waren. Das führt zu mehr linken Entscheidungen, als es vor einigen Jahren noch der Fall gewesen wäre. Wir wurden etwas wenig bürgerlich, aber nicht links, weil die Führungsrolle der Wirtschaft und der bürgerlichen Parteien auf weniger Akzeptanz stösst.
Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Welche Parteien sind aktuell am besten für die Zukunft aufgestellt?
Die Pol-Parteien verlieren nicht, obwohl sie in der Kritik standen, schlecht für die Konkordanz zu sein. Solange wir polarisierende Themen haben, sind die SVP und die SP am besten aufgestellt. Die grüne Welle und deren Schwung ist vorüber, die beiden Parteien mit dem grün im Namen sind momentan sehr mit sich selber beschäftigt. Die Mitte hält sich seit der Fusion erstaunlich gut. Es bleibt die FDP, die vorerst noch in einem Findungsprozess ist. Sie muss wohl noch am meisten an sich arbeiten.
Sie galten lange als Mann mit der Fliege. Warum haben Sie seit einigen Jahren auf Ihr Erkennungsmerkmal verzichtet?
Die Fliege war meine Uniform bei der SRG. Als ich dort 1993 begann, riet man mir, ein Erkennungsmerkmal zu etablieren. Eine kantige Brille passt aber nicht zu meinem Typ (lacht). Beim Fernsehen ist die Wiedererkennung ein wichtiger Punkt. So kamen wir auf die Fliege.
In Ihrem Ruhestand werden Sie weiterhin Stadtführungen beispielsweise durch Bern anbieten. Spielt dabei auch die Politik eine Rolle?
Meine Stadtführungen sind nicht primär politisch und sicher nicht parteipolitisch. Eine meiner Führungen heisst etwa «Demokratiegeschichte», die mit einem klaren Bekenntnis zur Demokratie verbunden ist. Auch wenn ich Kritik an der Funktionsweise unserer Demokratie habe, bekenne ich mich deutlich dazu. Ich bin aber auch fasziniert, wie Bern in der Barock-Zeit unter den Patriziern funktioniert hat. Ich übersehe dabei nicht, dass alles auf rechtlosen Untertanen basierte – auch hier spielte die Politik eine grosse Rolle.
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