Medizinhistoriker Corona-Krise offenbart «typisch schweizerisches Führungsproblem»

dor

26.7.2021

Flurin Condrau, Professor für Medizingeschichte am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich. (Archivbild)
Flurin Condrau, Professor für Medizingeschichte am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich. (Archivbild)
Bild: Keystone/Walter Bieri)

Flurin Condrau attestiert der Schweiz Führungsschwächen bei der Pandemiepolitik. In einer solchen Krise müsse der Bundesrat die Führung übernehmen und sie nicht den Kantonen überlassen, sagt der Professor für Medizingeschichte. 

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26.7.2021

In einer Pandemie muss der Bundesrat die Führung übernehmen – und sie nicht den Kantonen überlassen. Zu diesem Schluss kommt der Medizinhistoriker Flurin Condrau im Interview mit dem «Tages-Anzeiger» (Montagsausgabe). «Die Covid-Krise wurde eigentlich nie als echte nationale Herausforderung angegangen, die eine zentrale Führung wirklich länger notwendig gemacht hätte», sagt der Professor für Medizingeschichte am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich.

Die Corona-Krise habe ein «typisch schweizerisches Führungsproblem offenbart», sagte Condrau weiter. Nicht, weil die «Leute an der Spitze ihre Sache schlecht machen, sondern weil die Schweiz im Grunde nicht weiss, ob sie das Entscheiden dem Bundesrat überlassen will – oder dem Stammtisch». In einer Pandemie müsse der Bundesrat aber die Führung übernehmen und den Bürgern genau erklären, warum er etwas tue, das er sonst nur im Kriegsfall tun würde, so der Professor.

Er zitierte den deutschen Arzt Johann Peter Frank, einen Begründer der Sozial- und Präventivmedizin, der um 1800 den Gedanken formuliert haben soll, dass die «Abwehr von Seuchen eine zentrale Staatsaufgabe ist, wie die Abwehr eines äusseren Feindes mithilfe der Armee». Im Krieg sei die Landesverteidigung nicht den Kantonen überlassen worden, sagte der Wissenschaftler. Der Bundesrat habe sich das Vorgehen nicht von Interessengruppen diktieren lassen.



Schweizer Gesellschaft ohne Teamgeist

Der Medizinhistoriker attestierte der Schweizer Gesellschaft einen mangelnden Teamgeist. Zwar habe sie bei Pandemiebeginn im März 2020 zusammen gestanden, danach sei der Zusammenhalt rasch verloren gegangen. Die endgültige Beurteilung stehe zwar noch aus, aber er nehme heute nicht mehr wahr, dass «wir gemeinsam an einem Strang ziehen würden».

Condrau warnte zudem, dass die Pandemie noch nicht vorüber sei, «nur weil wir gerade akzeptable Fallzahlen haben». Er verwies auf die Fallzahlen, die sich aktuell jede Woche verdoppeln.