Missbrauchsskandal Jetzt stellen die Kantonalkirchen Forderungen an die Bischöfe

SDA, gbi

20.9.2023 - 16:31

Über 1000 Missbrauchs-Fälle in der Schweizer katholischen Kirche

Über 1000 Missbrauchs-Fälle in der Schweizer katholischen Kirche

Katholische Kleriker und Ordensangehörige haben in der Schweiz seit 1950 mindestens 1002 Fälle von sexuellem Missbrauch begangen. Das zeigt eine Analyse von Geheimarchiven kirchlicher Institutionen durch Historikerinnen und Historiker der Universität Zürich (UZH).

13.09.2023

Über 1000 Missbrauchsfälle: Das dürfe die Kirche nicht allein untersuchen, es brauche auch externe Fachleute. Diese und weitere Forderungen hat der Dachverband der Kantonalkirchen an die Bischöfe.

Keystone-SDA, SDA, gbi

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Nachdem vergangene Woche eine Studie der Universität Zürich über 1000 sexuelle Missbrauchsfälle veröffentlicht hat, müssten auch externe Fachleute bei der Aufklärung mitwirken. 
  • Diese und drei weitere Forderungen stellt die Römisch-Katholische Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ), der Dachverband der Kantonalkirchen. 
  • Kirchenrechts-Experte Andreas Thier erkennt Anzeichen, dass es der Kirche ernst ist mit der Aufklärung der Missstände.

Die gross angelegte Studie über Missbrauch in der Kirche führt nun zu Konfliktpotenzial in der katholischen Glaubensgemeinschaft. 

Die Römisch-Katholische Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ), der Dachverband der Kantonalkirchen, will die Aufklärung der Missstände nicht allein den Bischöfen überlassen. 

Die Unterstützung der Opfer sei wichtiger als die Sorge um das Image der Kirche, sagte RKZ-Generalsekretär Urs Brosi. Doch die jüngsten Enthüllungen hätten sowohl bei Kirchenmitgliedern als auch in der Öffentlichkeit Zweifel daran geweckt, ob die Bischöfe die Zeichen der Zeit auch wirklich erkannt hätten. Das sagte RKZ-Generalsekretär Urs Brosi am Dienstagabend in der Talksendung «Club» von SRF und am Mittwoch zu Radio SRF.

Die Kantonalkirchen stellen daher vier konkrete Forderungen an die Bischofskonferenz. Wohlwissend, dass das Konfliktpotenzial gross ist: «Die Bischöfe werden daran keine Freude haben», glaubt Brosi. 

1. Forderung: Externe Fachperson für Aufklärung

Erste Forderung: Dem Churer Bischof Joseph Bonnemain, der von der Bischofskonferenz mit der Aufarbeitung der Missbrauchsaffäre beauftragt wurde, müsste eine externe Fachperson zur Seite gestellt werden.

Diese Expertin oder dieser Experte sollte im Bereich Ermittlung und Strafuntersuchung kompetent sein und idealerweise von der Polizei oder einer Bundesanwaltschaft kommen. «Wir haben sogar schon eine potenzielle Zusage von einem ehemaligen stellvertretenden Bundesanwalt», verriet er im «Club».

2. Forderung: Unabhängige Meldestelle

Ausserdem brauche es eine unabhängige Meldestelle für die Opfer ausserhalb von kirchlichen Räumlichkeiten und Strukturen. Eine solche externe, unabhängige Anlaufstelle wurde zwar bereits angekündigt. Doch müsste diese nicht nur Meldungen entgegennehmen und weiterleiten können, sondern eine Kontrollfunktion über das weitere Verfahren innehaben, fordern die Kantonalkirchen.

Der St. Galler Bischof Markus Büchel, der Einsiedler Abt Urban Federer, der Churer Bischof Joseph Maria Bonnemain, der Basler Bischof Felix Gmür, von links.
Der St. Galler Bischof Markus Büchel, der Einsiedler Abt Urban Federer, der Churer Bischof Joseph Maria Bonnemain, der Basler Bischof Felix Gmür, von links.
Bild: Keystone

3. Forderung: Zivilstand sollte keine Rolle mehr spielen

Brosi sprach sich ausserdem dafür aus, dass kirchliche Mitarbeitende künftig – anders als heute – auch angestellt werden sollten, wenn sie geschieden, wiederverheiratet oder homosexuell sind oder im Konkubinat leben. Denn die problematische Sexualmoral sei Teil jenes Systems, das all die sexuellen Missbräuche überhaupt hervorgebracht habe.

Das partnerschaftliche Leben soll in Zukunft – abgesehen von den zum Zölibat verpflichteten Personen – weder anstellungs- noch kündigungsrelevant sein, fordert die RKZ.

4. Forderung: Breiter abgestützter Strafgerichtshof

Heute entscheidet der Bischof, ob eine Missbrauchsmeldung zu einer Voruntersuchung und allenfalls zu einer Anklage führt. Das ist laut der RKZ ungenügend: Sie fordert die Einrichtung eines interdiözesanen kirchlichen Strafgerichtshofs, in dem auch die RKZ vertreten sein soll. Dieses Gericht solle aber auch Frauen sowie Expert*innen aus den Bereichen Psychologie und Rechtswissenschaften mit einbeziehen.

Kirchenrechts-Experte optimistisch

Die Universität Zürich hatte am vergangenen Dienstag eine Studie veröffentlicht, die 1002 Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts dokumentiert. Den Forscher*innen zufolge handelt es sich dabei aber wohl nur um die Spitze des Eisbergs.

Wie gross ist der Wille der Kirchenvertreter, den Missbrauchsfällen wirklich auf den Grund zu gehen? Kirchenrechts-Experte Andreas Thier von der Universität Zürich erkennt durchaus positive Vorzeichen. «Der Bericht hat deutlich gemacht, dass lange Zeit der Wille und die Fähigkeit der römisch-katholischen Kirche in dieser Hinsicht offenbar begrenzt war», erklärt der Professor für Kirchenrecht auf Anfrage von blue News. Doch das habe sich mit dem 21. Jahrhundert offenbar geändert.

«Und der Umstand, dass insbesondere die Schweizerische Bischofskonferenz selbst diesen Bericht in Auftrag gegeben und finanziert hat, lässt deutlich den Willen erkennen, den Weg der Aufklärung zu beschreiten», befindet Thier. 

Bischof Bonnemain offen für externen Experten

Bischof Bonnemain, der bei der Bischofskonferenz zuständig für die Aufarbeitung der sexuellen Missbräuche ist, erklärte am Dienstagabend im SRF-«Club», dass er es begrüsse, wenn er externe Berater beziehen könne.

Eine externe Untersuchung der Missbräuche hatten am Wochenende Sylvie Perrinjaquet, Präsidentin der Westschweizer Anhörungskommission für Opfer von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche (Cecar), und die katholische Theologin und Journalistin Jacqueline Straub gefordert.

Jacqueline Fehr schaltet Staatsanwaltschaft ein

  • Die Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr (SP) fordert eine strafrechtliche Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. Sie hat der Staatsanwaltschaft einen entsprechenden Auftrag erteilt. Die Zürcher Staatsanwaltschaft soll nun mit den Kollegen aus den anderen Kantonen Vorschläge ausarbeiten, wie eine solche Untersuchung aussehen könnte, sagte Fehr in der Sendung «Rendez-vous» von Radio SRF1. Ob die Fälle noch strafrechtliche Konsequenzen haben werden, ist fraglich. Viele dürften verjährt sein. Ziel müsse aber sein, dass solche Fälle in der Kirche in Zukunft nicht mehr vorkommen, sagte die Justizdirektorin. Auch stelle sich die Frage, ob und wie vertuscht wurde. (sda)