Historische und kulturelle Gründe Darum bleiben viele Schweizer*innen lieber ungeimpft

Von Andreas Fischer

19.11.2021

Im westeuropäischen Vergleich ist die Ablehnung der Corona-Impfung in der Schweiz mit am höchsten. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Im westeuropäischen Vergleich ist die Ablehnung der Corona-Impfung in der Schweiz mit am höchsten. Die Gründe dafür sind vielfältig.
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Die Schweiz gehört zu den Spitzenreitern in Europa – zumindest bei der Quote der ungeimpften Erwachsenen. Warum verharren viele hierzulande trotz vierter Welle in ihrer Überzeugung, wenn es um die Impfung geht?

Von Andreas Fischer

Ohne Impfschutz gibt es kein Ende der Corona-Pandemie: Seit Monaten werden Politiker, Mediziner und Wissenschaftler nicht müde zu betonen, wie wichtig Impfungen sind.

Bei der Impfquote gehört die Schweiz zu den Schlusslichtern in Westeuropa – zusammen mit Deutschland und Österreich, wo der Anteil von ungeimpften Erwachsenen ähnlich hoch ist. In den deutschsprachigen Nachbarländern werden jetzt Massnahmen ergriffen: Österreich geht ab Montag in den Lockdown und will im Februar 2022 eine generelle Impfpflicht einführen. In Deutschland sollen ähnliche Massnahmen zumindest regional und für einzelne Berufe umgesetzt werden.



In der Schweiz verzichtet der Bundesrat trotz sich zuspitzender Corona-Lage vorerst auf weitere Massnahmen. Sie seien nicht notwendig, betonte Gesundheitsminister Alain Berset nach einem Treffen mit den kantonalen Gesundheitsdirektor*innen. Der oberste Kantonsarzt Rudolf Hauri appelliert an die Eigenverantwortung der Schweizer*innen, sich wieder vorsichtiger zu verhalten: «Zusehen können wir sicher nicht einfach, wir alle sind gefordert.»

Generelle Skepsis gegenüber dem Bund

Eigenverantwortung scheint ein Schlüsselwort im Schweizer Umgang mit der Pandemie zu sein. Gibt es hierzulande eine stärker ausgeprägte Skepsis gegenüber dem Staat als anderswo? Der Soziologe Oliver Nachtwey von der Universität Basel bejaht diese Frage in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Ein Grund dafür sei, dass die Schweiz ein stark föderales Land mit einer gewissen Skepsis gegenüber dem Bund ist. Oder wie es Christoph Berger, der Präsident der Eidgenössischen Impfkommission, ausdrückt: «Wenn immer der Staat etwas sagt, fragen wir: ‹Stimmt das auch für mich als Appenzeller, Berner, Tessiner?›»



«Das Verhältnis von Föderalstaaten, den Kantonen und dem Bund ist permanent angespannt und hat in der Pandemie noch mal eine höhere Spannung erlebt», erklärt Nachtwey. Dieses Spannungsverhältnis werde im Zuge der Pandemie sehr stark «durchpolitisiert».

Nachtwey vermutet hinter der Impfskepsis insbesondere in der Zentralschweiz aber auch historische Gründe. «In der Schweiz sind es zum Beispiel eher die katholischen Kantone, die bei der Schweizer Einigung im 19. Jahrhundert verloren haben und sich mehr oder weniger den Protestanten unterordnen mussten.» Dort gebe es jetzt eine besonders starke Neigung zur Impfverweigerung, während das Tessin etwa oder die Romandie wesentlich besser beim Impfen seien.

Straff organisierte Impfkampagnen

Während in der Schweiz die Corona-Zahlen in die Höhe schiessen, ist die Lage in anderen Ländern relativ entspannt. In Spanien und Portugal etwa sind die Inzidenzen niedrig: Die beiden Länder gelten mit Quoten von 87 Prozent (Portugal) und knapp 80 Prozent (Spanien) als Europameister beim Impfen. Auch in Frankreich und Italien ist die Impfbereitschaft höher als in der Schweiz.



Was macht man in diesen Ländern anders? In Spanien und Portugal wurde die Impfkampagne straff organisiert. Madrid vergab die Impftermine zentral, die Behörden meldeten sich bei den Bürgern mit Terminvorschlägen. In Portugal leitete ein Admiral die Operation Corona-Impfung und plante sie mit militärischer Strenge bis ins Detail durch.

Hinzu kommen in beiden Ländern eine hohe generelle Disziplin, ein ausgeprägtes Vertrauen in die Wissenschaft und ein grosses Verantwortungsgefühl, wie die spanische Zeitung «El Mundo» analysiert. Kommt hinzu: Die Impfgegner sind kaum zu hören: «Wenn ich im Fernsehen die Kundgebungen der Verschwörungstheoretiker in Deutschland, England und anderen Ländern sehe, bin ich sehr stolz auf meine Landsleute», sagte etwa eine Wirtin aus Lissabon der Nachrichtenagentur dpa.

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Wie könnten Bund und Kantone die Menschen von der Impfung überzeugen?

Solidarität und Verantwortung

Laut Soziologe Oliver Nachtwey spielen zudem «in der Gesellschaft strukturell verankerte Solidaritätsbeziehungen» eine Rolle, die sich von den denen in der Schweiz grundlegend unterscheiden. «Zum Beispiel leben die Familien auf viel engerem Raum und auch über mehrere Generationen miteinander zusammen. (…) Das sind Solidaritäts- und auch Gefahrenbeziehungen, wo viele Leute sagen, ich lasse mich lieber impfen, als dass ich meine Grosseltern jetzt in Gefahr bringe.»

Für Emmanuel Macron ist klar: «Frei zu sein, bedeutet auch, Verantwortung und Solidarität zu zeigen.» Frankreichs Präsident hat sich bei den Impfungen sehr entschlossen gezeigt. Auch wenn er damit seine politische Popularität aufs Spiel setzte, übte er mit der Einführung eines Gesundheitspasses und der Impfpflicht in Pflegeberufen Druck auf die Ungeimpften aus. 



Nicht zuletzt trage auch das subjektive Erleben einer Epidemie entscheidend dazu bei, «ob die Menschen bereit sind, sich präventiv dagegen zu schützen», erklärt Marcel Tanner, ehemaliger Leiter des Schweizerische Tropen- und Public-Health-Instituts, im «Tages-Anzeiger».  Der Lockdown in der Schweiz war im Vergleich zu den rigorosen Ausgangssperren in anderen Ländern verhältnismässig moderat.

Von Erfahrungen wie in Bergamo, wo Tote in Lastwagenkolonnen abtransportiert wurden, oder dramatischen Zahlen wie in Spanien oder Portugal ist die Schweiz verschont geblieben. «Erfahrungen im unmittelbaren familiären Umfeld», weiss Nachtwey, «sprechen eine besondere Sprache» und haben mit dazu beigetragen, dass sich in Italien, Spanien, Portugal die Leute, «die im Grunde offen sind für eine Impfung, aber zögern», doch zu einer Impfung entschieden haben.

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