Schutzstatus S Das erwartet Geflüchtete in der Schweiz

Von Oliver Kohlmaier

4.3.2022

Derzeit dürfen vor dem Krieg geflüchtete Ukrainer*innen ohne Visum in die Schweiz einreisen.
Derzeit dürfen vor dem Krieg geflüchtete Ukrainer*innen ohne Visum in die Schweiz einreisen.
AP/Andreea Alexandru/Keystone

Auch in der Schweiz treffen derzeit die ersten Kriegsflüchtinge aus der Ukraine ein und dürfen für 90 Tage ohne Visum bleiben. Danach will der Bundesrat ihnen den Schutzstatus S gewähren.

Von Oliver Kohlmaier

4.3.2022

Der Krieg in der Ukraine verursacht schon jetzt die grösste Flüchtlingswelle in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Am Donnerstagabend erhöhten die Vereinten Nationen gar ihre bisherige Prognose und rechnen nun mit bis zu 10 Millionen weiteren Geflüchteten.

Die meisten davon kommen in den westlichen Nachbarländern unter, vor allem in Polen. Die Solidarität in ganz Europa ist enorm — auch viele Schweizer*innen zeigen in diesen Tagen ihre Hilfsbereitschaft. Hilfsorganisationen arbeiten auf Hochtouren. Bund, Kantone und Gemeinden bereiten sich ebenso vor. 

Was aktuell gilt 

Derzeit können Schutzsuchende ohne Visum in die Schweiz einreisen und sich für 90 Tage im Land aufhalten, seit 28. Februar sogar ohne biometrischen Reisepass. Weiterhin ist es zudem möglich, ein reguläres Asylverfahren zu nutzen.

Wie Lukas Rieder, Mediensprecher des Staatssekretariats für Migration (SEM) auf Anfrage von blue News mitteilt, haben sich bis Donnerstagmorgen bereits rund 240 Personen aus der Ukraine in den Bundesasylzentren gemeldet, davon 120 einen Asylantrag gestellt. Der Rest ist demnach «provisorisch registriert».

Beantragen Geflüchtete Asyl, werden sie in den Bundesasylzentren aufgenommen, untergebracht und betreut. Diese Personen durchlaufen somit ein reguläres nationales Asylverfahren.

Wiedersehen an der Grenze

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Seit der russische Präsident Wladimir Putin den Angriff auf die Ukraine angeordnet hat, sind mehr als eine Million Menschen aus dem Land geflohen.

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Wer als Flüchtling anerkannt ist, hat ein unbeschränktes Aufenthaltsrecht und erhält den Ausweis B. Wer nicht als Flüchtling anerkannt, jedoch auch nicht weggewiesen wird, weil die «Wegweisung in die Heimat aufgrund des Krieges unzumutbar wäre», wird vorläufig aufgenommen. Geflüchtete mit diesem Status erhalten den Ausweis F.

Mit einer Anerkennung könnten Ukrainer*innen auch hierzulande arbeiten: «Nach dem Aufenthalt im Bundesasylzentrum ist die Erwerbstätigkeit von Asylsuchenden möglich, aber bewilligungspflichtig. Eine Bewilligung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit kann bei der zuständigen kantonalen Behörde beantragt werden,» heisst es vom SEM.

Die Erwerbstätigkeit von anerkannten Flüchtlingen sowie vorläufig aufgenommenen Personen sei möglich und nur meldepflichtig. Ausserdem gilt: «Asylsuchende, vorläufig aufgenommene und anerkannte Flüchtlinge sind grundversichert.»

Bundesrat will Schutzstatus S für ukrainische Flüchtlinge

«Nach Ablauf der ersten 90 Tage muss der Aufenthalt geregelt werden», schreibt das SEM und verweist auf die Sitzung des Bundesrates von diesem Freitag. Hier hat der Bundesrat am Freitag entschieden, dass er den Schutzstatus S für Ukrainerinnen und Ukrainer aktivieren möchte.

Die Geflüchteten würden damit ein Aufenthaltsrecht in der Schweiz erhalten, ohne dass sie ein ordentliches Asylverfahren durchlaufen müssen. Das mit dem Status S verbundene Aufenthaltsrecht wäre auf ein Jahr befristet, kann aber verlängert werden. Zudem würde der unverzügliche Familiennachzug möglich.

Setzt der Bundesrat seinen Vorschlag um, wäre es das erste Mal, dass die Schweiz auf den Schutzstatus S zurückgreift, der aufgrund der Erfahrungen der Jugoslawien-Kriege in den 1990er-Jahren eingeführt wurde.

Aus der Ukraine geflüchtete Menschen am Grenzübergang Mayaky-Udobne. Wegen des russischen Angriffs auf ihre Heimat sind Hunderttausende auf der Flucht.
Aus der Ukraine geflüchtete Menschen am Grenzübergang Mayaky-Udobne. Wegen des russischen Angriffs auf ihre Heimat sind Hunderttausende auf der Flucht.
Sergei Grits/AP/dpa

Wie Bundesrätin Keller-Sutter vor den Medien in Bern darlegte, erlaube es der Status S, das Asylsystem zu entlasten und für reguläre Verfahren für Flüchtlinge und Migranten aus anderen Ländern freizuhalten. In der momentanen Situation sei es angesichts der Flüchtlingsbewegung wichtig, die «Bürokratie auf ein Minimum» zu beschränken, so Keller-Sutter.

Es braucht noch Anpassungen

Wie die Bundesrätin weiter darlegte, sind beim Schutzstatus S noch Anpassungen nötig, unter anderem hinsichtlich der Reisefreiheit im Schengenraum. Ziel müsse sein, dass Flüchtlinge aus der Ukraine sich auch mit Schutzstatus S frei bewegen könnten, wozu es aber eine Bewilligung des Staatssekretariats für Migration brauche. Auch schlage der Bundesrat vor, die Wartefrist von drei Monaten für eine Arbeitstätigkeit zu verkürzen. Man müsse hier aber noch auf die Reaktionen der Kantone warten.

Der Bundesrat hat seinen Vorschlag für den Schutzstatus S bei den Kantonen, Gemeinden und Hilfswerken in die Konsultation gegeben. Die Kantone sind auch für die Unterbringung der Flüchtlinge zuständig und würden vom Bund mittels einer Globalpauschale für Unterbringung, obligatorische Krankenkasse und Betreuung der Geflüchteten entschädigt. Definitiv über den Status S entscheiden will der Bundesrat dann am kommenden Freitag.

EU legte vor

Keller-Sutter betonte bereits vor der BUndesratssitzung, den Schutzstatus S unabhängig von der Aktivierung der Notfall-Richtlinie zum temporären Schutz durch die EU-Staaten zu beantragen. Diese einigten sich dann trotz Streit um den Status von Geflüchteten aus Drittländern doch noch und wollen Schutzsuchenden einen Aufenthalt bis zu einem Jahr ermöglichen. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson sprach von einer historischen Entscheidung.

Bundesrätin Keller-Sutter zufolge sind die EU-Richtlinie und der Schweizer S-Status ohnehin ähnlich. Die SP und Amnesty International Schweiz hatten zuvor kritisiert, dass der S-Status den Geflüchteten weniger Rechte gebe als die Richtlinie. Angesprochen auf diese Unterschiede – etwa einem dreimonatigen Arbeitsverbot oder einer Bewilligungspflicht für Reisen ins EU-Ausland – machte sich die Bundesrätin dafür stark, hier pragmatisch zu entscheiden.

Die Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) wies zudem darauf hin, dass auch die einzelnen Länder in der EU die Richtlinie unterschiedlich umsetzten. «Ich meine, dass der Schutzstatus S flexibler ist», sagte Keller-Sutter.

Hilfsorganisationen fordern barrierefreie Aufnahme

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) forderte neben der Aktivierung des Notfallmechanismus der EU auch jene des Schutzstatus S.

Die Schweiz solle demnach Schutzsuchende rasch und barrierefrei aufnehmen und den Schutzstatus S entsprechend ausgestalten: «Die Schutzbedürftigen müssen bei Bedarf Zugang zum Asylverfahren haben, Familienzusammenführungen sollten grosszügig ermöglicht und die berufliche wie soziale Integration erleichtert werden, da die Dauer des Konflikts nicht absehbar ist», heisst es in einer Medienmitteilung.

Auch andere Schweizer Hilfsorganisationen fordern eine grosszügige Regelung für die Geflüchteten. So teilt die Caritas auf Anfrage von blue News mit: «Caritas Schweiz unterstützt die Ausführungen und Forderungen der SFH.»

Armee liefert humanitäre Hilfsgüter für die ukrainische Bevölkerung

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Am Mittwochmorgen entsendet die Armeeapotheke einen Hilfsgütertransport, bestehend aus sechs Lastwagen, mit medizinischen Gütern für die ukrainische Bevölkerung. Darunter befinden sich Defibrillatoren, Beatmungsgeräte, Hygienemasken, Operationskittel und medizinische Schutzanzüge. Die Humanitäre Hilfe des Bundes errichtet in Polen einen vorgelagerten Hub für Schweizer Hilfsgüter. Dieser soll dazu dienen, zukünftige Lieferungen in die Ukraine und das Grenzgebiet in Polen sowie mögliche andere Nachbarstaaten zu erleichtern.

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Die Chancen für eine Aktivierung des Schutzstatus S für Geflüchtete aus der Ukraine stehen wohl gut — nicht zuletzt wegen der enormen Anteilnahme und Solidarität der Schweizer*innen.

Wie viele Schutzsuchende tatsächlich hierzulande ankommen werden, ist noch unklar. Bundesrätin Karin Keller-Sutter wollte keine Zahlen nennen, erklärte jedoch: «Wir haben sehr wenig Menschen aus der Ukraine, die zurzeit in die Schweiz kommen.» Diese kommen demnach überwiegend bei Verwandten unter.

Es werden bis zu 20'000 Flüchtende in der Schweiz erwartet

Das SEM teilt blue News mit: «Die Situation ist zu volatil, um eine seriöse Prognose über die weitere Entwicklung abzugeben.» Die ukrainische Diaspora in der Schweiz sei mit rund 7000 Menschen jedoch «relativ klein».

Aktuell leben laut Staatsekretärin Christine Schraner Burgener, die die Bundesrätin nach Brüssel begleitete, 11'000 Ukrainerinnen und Ukrainer in der Schweiz — miteingerechnet schweizerisch-ukrainische Doppelbürger. Wenn man von dieser Zahl ausgehe, könne man sich in etwa ausrechnen, wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer in die Schweiz flüchten könnten.

Eine entsprechende Rechnung hat die Direktorin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe Miriam Behrens angestellt. Sie geht von einigen Tausenden, womöglich 10'000 oder 20'000 ukrainischen Flüchtlingen aus, berichtet SRF. Mit ähnlichen Zahlen rechnet auch die Vizepräsidentin der Konferenz Kantonaler Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren SODK Marianne Lienhard.

Teilnahme am EU-Solidaritätsmechanismus

Laut Bundesrätin Keller-Sutter wurde bereits ein Krisenstab «Asyl» aktiviert, der die Aufnahme koordinieren soll. Habe der Bundesrat sich entschieden, den S-Status anzuwenden, sollte unter anderem auch die Unterbringung bei Privaten möglich sein.

Wie viele Flüchtlinge von sich aus ihren Weg in die Schweiz finden, könnte dabei womöglich ohnehin nicht mehr entscheidend sein. Denn Keller-Sutter machte deutlich, dass sich die Schweiz auch am EU-Solidaritätsmechanismus beteiligen will, wenn dieser dereinst aktiviert wird. Dieser dient der Verteilung geretteter Menschen unter den EU-Staaten.

Mit Material von sda.