Experte zum EU-Verhältnis «Ich würde ausschliessen, dass man Bern bewusst die kalte Schulter zeigt»

Von Philipp Dahm

18.6.2022

«Am Ende kommt es auf die Inhalte an»: die EU-Flagge vor dem Bundeshaus.
«Am Ende kommt es auf die Inhalte an»: die EU-Flagge vor dem Bundeshaus.
KEYSTONE

Der Bundesrat hat über die Sondierungen mit der EU beraten – und will Tempo machen. Experte Olaf Wientzek erklärt, wo es klemmt, wie Brüssel tickt – und warum beiden Seiten die Zeit davonläuft.

Von Philipp Dahm

Bei seiner Aussprache über die Beziehungen zur EU hat der Bundesrat am 17. Juni angekündigt, die Sondierungsgespräche mit der Kommission zu intensivieren. blue News hat Olaf Wientzek, der die bilateralen Verhandlungen als Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Genf verfolgt, um eine Einordnung gebeten.

Der Bundesrat will die Gespräche mit der EU intensivieren. Spricht daraus der Druck, den Brüssel auf Bern macht?

Ich glaube, da spricht vor allem auch Eigeninteresse daraus. Es gibt sicherlich klare Signale aus Brüssel: Man erwartet mehr von der Schweiz, man erwartet Klarstellungen von der Schweiz. Das hat man auch im Mai in dem berühmten 10-Punkte-Brief gesehen. Aber ich würde nicht nur den Druck der EU dahinter sehen, sondern eben auch, dass man sieht, dass eine Lösung auch im eigenen Interesse ist.

Wo zeigt sich das?

Man sieht das zum Beispiel an der Forschung, und es gibt diese interessante Analyse von Avenir Suisse, nach der Grenzkantone zunehmend die Auswirkungen der fehlenden Rechtsangleichung und die Gefahr des Auseinanderdriftens der beiden Räume spüren.

Zur Person
Konrad-Adenauer-Stiftung

Dr. Olaf Wientzek ist Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Genf. Der Politikwissenschaftler ist Europapolitik-Experte und hat unter anderem am College of Europe im polnischen Natolin studiert.

Wie wirkt sich das in der Praxis aus?

Lokale Unternehmer haben mit neuen bürokratischen Hürden zu kämpfen. Es betrifft wohl zunächst die Medizinaltechnik, doch als Nächstes könnte der Bereich Maschinenbau und andere Branchen wie auch die Pharmaindustrie folgen. Und in der Schweiz generell, aber vor allem in den grenznahen Kantonen spüren gerade auch die Forschungsinstitutionen Folgen, die der Ausschluss aus den entsprechenden EU-Programmen hat.

Hat sich die Haltung Brüssels verändert?

Nicht fundamental. Der Brief, der Anfang Juni veröffentlicht wurde, hat in Brüssel sicher nochmal die eine oder andere Frage beantwortet, aber längst nicht alle.

Offene EU-Fragen: die Bundesräte Karin Keller-Sutter und Guy Parmelin.
Offene EU-Fragen: die Bundesräte Karin Keller-Sutter und Guy Parmelin.
Keystone

Wie steht es um das Verhältnis, wenn bisher erst zwei Runden zustande gekommen sind und man Mühe hat, sich auf einen dritten Termin zu einigen?

Man darf das nicht überinterpretieren. Auf der EU-Seite ist das Interesse immer noch da. Es gab sicherlich eine Periode nach dem Scheitern des Rahmenabkommens – oder dem einseitigen Rückzug daraus durch die Schweiz –, in der es in Brüssel eine starke Enttäuschung gab und man nicht gut auf die Exekutive zu sprechen war, aber ich glaube, das ist vorbei. Ich würde ausschliessen, dass man Bern bewusst die kalte Schulter zeigt.

Spielen andere Gründe eine Rolle?

Man darf nicht vergessen, dass viel politische Energie in Brüssel derzeit durch den Krieg in der Ukraine absorbiert wird. Es gibt auch wieder Diskussionen mit Grossbritannien wegen des Brexit-Abkommens. Da gibt es Sitzungen, das macht schlicht die Terminfindung schwieriger.

Die Schweiz wirft der EU mangelnde Flexibilität vor: Wo bewegt sich Brüssel nicht und warum?

Der Bundesrat hat das relativ allgemein formuliert, deshalb kann ich nur erahnen, dass es zum Beispiel um Fragen wie die Streitschlichtung geht. Das ist eine institutionelle Frage, die der EU allerdings wichtig ist. Die EU muss auch darauf achten, wie die Beziehungen zu ihren anderen Partnern ausgestaltet sind und dass die Schweiz im Vergleich nicht zu stark bevorteilt wird. Auch bei allen Fragen die mit der Unionsbürgerschaft sowie unmittelbar oder mittelbar mit der Freizügigkeit zu tun haben, ist der Spielraum Brüssels schlicht begrenzt.

Wie schätzen Sie die Lage ein, was diese institutionellen Differenzen angeht?

Ich glaube, in Brüssel sieht man bei der Schweiz eine Bringschuld. Es ist ja nicht nur, aber auch an den institutionellen Fragen gescheitert. Die EU ist skeptisch, wenn Bern sagt, man wolle diese Punkte erst in den Verhandlungen regeln. Die Reaktion dürfte sein: Wir haben verhandelt und verhandelt, und es nichts davon hat das Tageslicht gesehen. Deshalb will Brüssel wohl bei den neuralgischen Fragen möglichst viel möglichst früh wissen, etwa auch Fragen nach der Rolle des Europäischen Gerichtshofs.

Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg ist Brüssel heilig.
Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg ist Brüssel heilig.
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Was bewegt die EU zu dieser Haltung?

Die EU hat gerade viele Erfahrungen mit Grossbritannien und einem Abkommen gemacht, das ausgehandelt war, vom Partner aber immer wieder uminterpretiert worden ist oder gar missachtet wird. Ich glaube, das hat die Kommission durchaus geprägt. Brüssel ist gebrandmarkt und will bei diesen Fragen nicht zu flexibel sein, um nicht in der Praxis enttäuscht zu werden und vor einem Nichts zu stehen.

Was denken Sie über die Auswirkungen der Lage auf die Forschung?

Ich glaube, dass die EU gut beraten wäre, bei die Blockade bei der Forschungszusammenarbeit nicht zu überziehen. Wenn man auf Schweizer Seite Schritte und Gesten guten Willens sieht, wenn auf die jetzigen Sondierungen auch wirkliche Verhandlungen folgen, sollte sich die EU gerade mit Blick auf Horizon bewegen. Das, was die EU tut, sollte in der Schweiz nicht als Strafmassnahme verstanden werden. Es wäre für beide Seiten wichtig, dass man schnell zu einer Lösung kommt.

Es gibt Stimmen, die mehr Mitsprache der Kantone bei den Verhandlungen fordern. Was würde das bringen?

Ich halte das für überlegenswert, weil einige Kantone die Auswirkungen viel stärker spüren – gerade natürlich die, die auf grenzüberschreitende Zusammenarbeit angewiesen sind. Vielleicht hätte es auch den Effekt, dass spätere Verhandlungen dann breiter abgestützt wären. Die Diskussionen über das Rahmenabkommen waren auch deshalb so schwierig, weil viele politische Akteure sich in dem Ergebnis nicht so wiedergefunden haben. Die Diskussion über die Weiterführung des bilateralen Wegs ist aber keine allein zwischen Brüssel und Bern: Die Einbeziehung der Kantone könnte die Akzeptanz einer Lösung stärken.

Wie realistisch ist es, dass Bewegung in die Verhandlungen kommt?

Am Ende kommt es auf die Inhalte an. Es wäre wichtig, die neuralgischen Fragen früh anzugehen – also direkt auf die Punkte einzugehen, an denen es zuletzt gescheitert ist. Es gibt ausserdem einen Kalender: Im Herbst nächsten Jahres stehen in der Schweiz Parlamentswahlen an. Relativ bald darauf im Mai 2024 stehen in der EU Europawahlen an. Bis eine neue Kommission gebildet ist, vergeht Zeit.