Taskforce-Vize «Der Druck auf die Spitäler fällt damit nicht weg»

Von Gil Bieler und Alex Rudolf

11.1.2022

Samia Hurst sagt: «Ohne die derzeitigen Massnahmen wäre die Situation sehr wahrscheinlich noch schlimmer.»
Samia Hurst sagt: «Ohne die derzeitigen Massnahmen wäre die Situation sehr wahrscheinlich noch schlimmer.»
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Sie ist eine der mächtigsten Frauen in der Schweizer Corona-Bekämpfung: Science-Task-Force-Vize Samia Hurst erklärt, in welchem Bereich wir kollektiv versagt haben.

Von Gil Bieler und Alex Rudolf

11.1.2022

Noch kämpft die Schweiz mit rekordhohen Omikron-Fallzahlen. In England, das uns rund zwei Wochen voraus ist, steigen die Hospitalisationen: Sollten wir beunruhigt sein?

Studien zeigen zwar, dass Omikron weniger schwere Fälle verursacht als Delta, aber der Druck auf die Spitäler fällt damit nicht weg. Auch wenn Intensivplätze weniger stark ausgelastet sind – ob das tatsächlich so ist, wird sich erst in den kommenden Wochen zeigen – müssen wir in der Omikron-Welle auch die Zahlen der Krankenhauseinweisungen ausserhalb der Intensivstation genau beobachten. Denn eine hohe Zahl von Spitalaufenthalten kann die Qualität der Versorgung für alle beeinträchtigen.

Sie sagen, alle müssten zur Gesundheitsversorgung Zugang haben. Verschiedene Politiker*innen fordern aber, dass Ungeimpfte auf einen Platz in der Intensivstation verzichten sollen oder dass sie erst nach den Ungeimpften behandelt werden sollen. Besorgt Sie dies?

Ja, denn der Zugang zu medizinischer Versorgung ist ein Grundrecht. Die medizinische Ethik setzt die Gleichwertigkeit eines jeden Menschenlebens voraus. Das Recht auf Zugang zur Gesundheitsversorgung kann nicht durch das persönliche Verhalten verloren gehen.

«Das Recht auf Zugang zur Gesundheitsversorgung kann nicht durch das persönliche Verhalten verloren gehen.»

Darüber hinaus hat die Schweiz beschlossen, in dieser Pandemie die Freiheit zu gewähren, sich impfen oder nicht impfen zu lassen. Daher muss diese Freiheit sowohl bei politischen als auch bei medizinischen Entscheidungen berücksichtigt werden.

Worin liegt das ethische Problem? Immerhin erhöhen die Ungeimpften mit ihrem Entscheid die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf der IPS landen.

Zur Person
Bioethicienne et professeure a l'Universite de Geneve Samia Hurst, vice presidente de la Covid 19 Science Task Force, pose pour le photographe, ce mercredi 21 juillet 2021 a Geneve. Le Swiss National Covid-19 Science Task Force (Groupe national suisse de travail scientifique sur la Covid-19) est un groupe d'experts constitue par le Conseil federal des la fin mars 2020 dans le cadre de la pandemie de Covid-19. (KEYSTONE/Salvatore Di Nolfi)
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Die 51-jährige Samia Hurst ist Bioethikerin und Vizepräsidentin der Corona-Taskforce. Am Institut Éthique Histoire Humanités der Universität Genf ist sie Professorin.

Die Impfung verringert zwar die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf die Intensivstation müssen, aber sich impfen zu lassen ist nicht das einzige Verhalten mit dieser Wirkung. Dass es viele Patienten auf der Intensivstation gibt, ist nicht nur auf das Verhalten ungeimpfter Menschen zurückzuführen: Jedes Mal, wenn wir das Risiko eingehen, uns zu infizieren und SARS-CoV2 zu übertragen, ob wir nun bereits geimpft sind oder nicht, gehen wir das Risiko ein, die Zahl der Patient*innen zu erhöhen, die im Krankenhaus und auf der Intensivstation behandelt werden müssen. Grundsätzlich ist die Gesundheitsversorgung jedoch ein Recht: Sie muss nicht durch risikofreies oder gar tugendhaftes Verhalten verdient werden.

Aktuell gibt es keine Gesetzesgrundlage für eine Triage. Braucht es eine solche oder sollte diese Frage aus rein medizinischer Sicht behandelt werden?

Die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) bieten eine Orientierungshilfe für medizinische Fachkräfte. Diese wurden von einer interdisziplinären Gruppe medizinischer und juristischer Fachleute verfasst und berücksichtigen auch Stellungnahmen von Gruppen potenziell betroffener Personen. Die Richtlinien sind rechtlich nicht bindend, aber auch andere SAMW-Richtlinien wurden von Gerichten zur Definierung von Versorgungsstandards herangezogen.

Sie warnen, vielleicht reichten die bisherigen Massnahmen nicht, um die Omikron-Fallzahlen zu senken. In welchen Lebensbereichen müsste die Politik am ehesten eingreifen?

Ohne die derzeitigen Massnahmen wäre die Situation sehr wahrscheinlich noch schlimmer, aber sie zeigen keine ausreichende Wirkung, um die jetzige Welle zum Abklingen zu bringen. Wenn der aktuelle Trend andauert, wird uns die Omikron-Welle in unbekanntes Terrain führen. Die Wissenschaft kann nicht sagen, wo politisch eingegriffen werden soll, nur wo die Ansteckungen passieren: nämlich dort, wo sich Menschen ohne Immunität aufhalten und Aerosolen ausgesetzt sind.



Sollte die Homeoffice-Pflicht zur neuen Normalität werden?

Das ist eine Frage für die Politik, Arbeitgeber und Behörden. Aus epidemiologischer Sicht macht es Sinn, bei hoher Inzidenz und Zirkulation, so wie jetzt, Kontakte auch in der Arbeit so viel wie möglich zu reduzieren.

Die aktuell gültigen Massnahmen gelten bis zum 24. Januar. Welche epidemiologische Entwicklung erwarten Sie bis dahin?

Wenn wir unsere Kontakte reduzieren, kann der Anstieg der Fallzahlen gebremst werden. Auch wenn rasch die dritte Impfung verabreicht wird, kann die Dynamik verlangsamt werden.

Wie gelingt es uns, aus dem Auf und Ab der Infektionswellen auszubrechen?

Das geschieht, wenn in der Bevölkerung genug Personen Immunität gegen die kursierenden Varianten erlangt haben – entweder durch Impfung oder durch Krankheit. Dann kommen wir in die sogenannte endemische Lage, wo das Virus zwar noch zirkulieren kann, aber ohne kollektive Folgen für die ganze Gesellschaft.

In westlichen Ländern wird teils schon zum zweiten Mal geboostert, während auf der Südhalbkugel viele noch nie geimpft wurden. Sind wir zu egoistisch?

Die Wissenschaft hat dazu beigetragen, mit beispiellosem Tempo Werkzeuge zur Bekämpfung dieser Pandemie zu entwickeln. Trotz intensiver Bemühungen vieler Institutionen gelingt es uns aber nicht, diese Instrumente weltweit so zu verbreiten, wie es nötig wäre. Auf internationaler Ebene stellt das ein kollektives moralisches Versagen dar – und auch eine Fahrlässigkeit.



Die WHO erinnert uns immer wieder daran, dass «niemand sicher ist, solange nicht alle sicher sind». Denn der anhaltende Impfstoffmangel in vielen Ländern erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass neue Varianten entstehen. Das bedeutet aber nicht, dass weniger Drittimpfungen verabreicht werden sollten. Es bedeutet vielmehr, dass grössere Anstrengungen unternommen werden sollten, um die Produktion zu steigern, auch in den armen Ländern, die dazu in der Lage wären.

Woran liegt es, dass ärmere Länder nie zum Zug kommen? An den Impfstoffmengen, der Logistik oder dem Willen?

Dies ist eindeutig eine politische und keine wissenschaftliche Frage.

Werden Infektionswellen auch in künftigen Wintern immer wieder auftreten?

Es ist gut möglich, dass selbst in der endemischen Situation, Viren immer wieder zirkulieren werden – auch wenn sie nicht mehr so extreme Wellen verursachen.

Das Interview wurde schriftlich geführt