Schweizweite ProtesteKlimastreik auf einem Eisberg namens Mallorca
Von Andreas Fischer
21.5.2021
Ist es die Ironie des Schicksals? Ausgerechnet einen Tag vor dem schweizweiten Klimastreik bricht in der Antarktis der grösste Eisberg der Welt ab. Der Koloss bringt auf den Punkt, worum es den Streikenden geht.
Von Andreas Fischer
21.05.2021, 06:45
21.05.2021, 11:25
Andreas Fischer
Was haben die Klimastreik-Bewegung, ein Eisberg und Mallorca miteinander zu tun? Eigentlich nichts, und doch alles. Für heute Freitag, 21. Mai, ist ein schweizweiter Klimastreik angekündigt. Am «Strike for Future» wollen sich auch mehrere Gewerkschaften beteiligen, unter anderem die Unia. Mehr als 180 Aktionen sind geplant, darunter mehrere Grossdemonstrationen. Die meisten davon auch bewilligt, wie die Bewegung mitteilt.
Als Motivation für ihre Aktionen nennen die Klimastreikenden immer häufiger den Grund «Klimanotstand». Den gibt es zwar im juristischen Sinne nicht in der Schweiz. Dass sich das Klima weltweit wandelt, ist aber wissenschaftlich nicht mehr von der Hand zu weisen, auch wenn der Klimawandel in den letzten von der Corona-Pandemie geprägten Monaten nicht ganz oben auf der politischen und medialen Agenda stand. Er ging irgendwie unter.
Es kommt nicht auf die Grösse an
Womit der Eisberg und Mallorca ins Spiel kommen. Der Abbruch eines enormen Eisberges vom Ronne-Schelfeis im antarktischen Weddellmeer löste am Donnerstag ein enormes Medienecho aus, auch «blue News» berichtete. Im Mittelpunkt stand meist die schiere Grösse des Eisbergs: A-76, so seine Bezeichnung, hat eine Fläche von 4320 Quadratkilometern und ist damit grösser als das Ferienparadies Mallorca. Oder in etwa so gross wie die Innerschweiz.
Dabei ist die Grösse gar nicht so sehr das Problem. Stattliche Eisberge kalben immer wieder mal vom antarktischen Schelfeis oder – auf der anderen Seite der Erde – vom grönländischen Eisschild. In diesem Jahr nun also der 1270 Quadratkilometer grosse A-74. Vor vier Jahren löste sich der Eisberg A-68 ebenfalls vom antarktischen Schelfeis – ein Koloss von 5800 Quadratkilometern.
Viel problematischer als die Grösse ist das Tempo beim globalen Eisverlust. Und zwar nicht nur bei spektakulären Eisbergen. Der Glaziologe Andreas Bauder von der ETH Zürich hat in einem «blue News»-Interview darauf hingewiesen, dass auch die Eismassen auf dem Festland, in den Alpen, in der Schweiz betroffen sind. «Grundsätzlich leiden die Gletscher weiterhin», sagte der Wissenschaftler. «Die Eismasse nimmt laufend ab, das geht unvermindert weiter.»
Eisschmelze ist nicht nur ein Problem der Zukunft
In den letzten zwei Jahrzehnten haben die Gletscher weltweit 267 Gigatonnen Eis pro Jahr verloren. Das schmelzende Eis war für rund einen Fünftel des Meeresspiegelanstiegs verantwortlich, berichteten Forschende um den Doktoranden Romain Hugonnet, der an der ETH Zürich und der französischen Université de Toulouse tätig ist, gerade im Fachmagazin «Nature». Mit dem verlorenen Eisvolumen hätte die Fläche der Schweiz alljährlich sechs Meter unter Wasser gesetzt werden können.
Für den Physiker Thomas Slater vom Center for Polar Observation and Modeling der University of Leeds ist die Beschleunigung der Abschmelzgeschwindigkeit «besorgniserregend», wie er in einem Interview mit dem «Spiegel» (kostenpflichtiger Artikel) sagt. Sie zeige, «dass es höchste Zeit ist, den Kohlendioxidausstoss zu reduzieren. Andernfalls könnten wir tatsächlich in einen sich selbst verstärkenden Kreislauf der Erwärmung kommen».
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Bis zum Ende des Jahrhunderts steuere die Welt auf einen Meeresspiegelanstieg zwischen 30 Zentimetern und einem Meter zu – mit langfristigen Folgen für Millionen von Menschen. Doch schon jetzt leiden Menschen unter der Eisschmelze, erklärt Slater: «Es gibt zum Beispiel in der Arktis viele Gemeinden, die das Meereis benötigen, weil es ihre Siedlung vor Stürmen schützt. Andere Gemeinden in den Bergen sind zur Gewinnung von Trinkwasser abhängig von Gletschern und leiden nun unter den Effekten der Eisschmelze.»
Allein die Antarktis könnte längerfristig insgesamt 42 Zentimeter zum globalen Anstieg des Meeresspiegels beitragen. Auf der anderen Seite der Erde sieht es nicht besser aus.
Die Schäden sind irreversibel
Teile des grönländischen Eisschilds dürften schon bald einen kritischen Kipppunkt überschreiten, ab dem ein Abschmelzen kaum noch zu stoppen wäre, teilte das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) Anfang der Woche unter Berufung auf Erkenntnisse deutscher und norwegischer Forscher mit.
Ursache sind demnach Rückkopplungseffekte, wodurch die Erwärmung des Eisschildes schneller voranschreitet, wenn sich seine Höhe verringert. «Praktisch wird der gegenwärtige und in naher Zukunft zu erwartende Massenverlust des Eises weitgehend irreversibel sein», erklärte dazu PIK-Wissenschaftler Niklas Boers.
Die Polarregion hat sich in den vergangenen 50 Jahren dreimal schneller als der Rest des Planeten erwärmt. Zwischen 1971 und 2019 stieg die durchschnittliche Jahrestemperatur in der Arktis um 3,1 Grad Celsius, auf der Erde insgesamt dagegen um ein Grad Celsius, wie das Arctic Monitoring and Assessment Programme (Amap) berichtet.
Schmölze der Eisschild auf Grönland vollständig ab – was allerdings immer noch Hunderte oder Tausende von Jahren dauern würde –, würde dies zu einem globalen Meeresspiegelanstieg von mehr als sieben Metern führen. Und die atlantische meridionale Umwälz-Zirkulation zusammenbrechen lassen: Der Nordatlantikstrom ist als Verlängerung des Golfstroms für die relative Wärme in Europa und Nordamerika verantwortlich. Schimpfe noch jemand auf das aktuelle Wetter.
«Wenn wir das Abschmelzen umkehren wollen, müssten wir die globalen Temperaturen senken», mahnt Slater. Eine Forderung auch der Klimastreikenden. Gelingt das nicht, werden ihre Nachkommen Mallorca nur noch aus Erzählungen kennen. Eisberg hin, Eisberg her.