Geflüchtete Kinder an Schulen «Der Umgang mit Traumata muss ernst genommen werden»

Von Maximilian Haase

13.3.2022

Unter den Flüchtlingen aus der Ukraine befinden sich viele Kinder und Jugendliche (Archivbild).
Unter den Flüchtlingen aus der Ukraine befinden sich viele Kinder und Jugendliche (Archivbild).
Annette Riedl/dpa

Unter den Tausenden ukrainischen Geflüchteten, die auch in der Schweiz erwartet werden, befinden sich viele Kinder und Jugendliche im Schulalter. Wie bereiten sich die Schulen auf ihre Integration vor?

Von Maximilian Haase

13.3.2022

Über 2'000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine haben die Schweiz bislang erreicht, erwartet werden laut Bundesrätin Karin Keller-Sutter bis zu 60'000 Menschen, die nun automatisch den Schutzstatus S erhalten. Eine Herausforderung stellt die Integration der ankommenden Ukrainer*innen auch deshalb dar, weil sich unter ihnen verhältnismässig viele Kinder befinden. 40 Prozent der Geflüchteten seien minderjährig, informierte Keller-Sutter an der aktuellen Pressekonferenz.

Vor allem auf die Schulen kommt damit eine grosse Aufgabe zu. Die Kinder und Jugendlichen, die sich mit dem Schutzstatus S in der Schweiz aufhalten, haben Anspruch auf Unterricht, so Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin des Dachverbands der Lehrerinnen und Lehrer, zu blue News. Wie können sich die Bildungsdirektionen, Schulen und Lehrer*innen also auf die Integration von Tausenden erwarteten Schüler*innen vorbereiten?

Ukrainische Flüchtlinge erhalten in der Schweiz den Schutzstatus S

Ukrainische Flüchtlinge erhalten in der Schweiz den Schutzstatus S

Menschen, die wegen des Krieges aus der Ukraine geflüchtet sind, erhalten in der Schweiz den Schutzstatus S. Das heisst, dass sie ohne Asylverfahren vorerst ein Jahr in der Schweiz bleiben, arbeiten und zur Schule gehen können. Was der Schutzstatus S für die Betroffenen genau beinhaltet, erklärte Bundesrätin Karin Keller-Sutter am Freitag vor den Medien.

11.03.2022

Situation ist «nicht komplett neu»

Kurzfristig gehe es vor allem darum, «dass diese Kinder unkompliziert und unbürokratisch einen Platz in einer Schulklasse zugewiesen bekommen, damit sie in dieser schwierigen Situation eine Struktur und eine gewisse Sicherheit erleben dürfen», erklärt Rösler. Längerfristig brauche es aber sowohl von den Kantonen als auch vom Bund «klärende Regeln und entsprechende Unterstützung für die Schulen».

Die aktuelle Organisation sei nicht einfach, sagte Regierungsrat Fredy Fässler an der Medienkonferenz, doch habe man in der Sache auch Erfahrung aus früheren Krisen. Auch Dagmar Rösler betont, dass die Situation für Lehrkräfte «nicht komplett neu» sei: «Ich erinnere an die Flüchtlingskinder aus Syrien und Afghanistan, die unsere Schulen besuchen.» 

Die Schulgemeinden hätten bereits viel Erfahrung mit Geflüchteten und könnten «schnell und adäquat reagieren, um neu zugezogene Kinder in den Regelunterricht zu integrieren», bestätigt auf Anfrage auch Dorotea Simeon, Sprecherin der Bildungsdirektion Zürich. Wie sich die Situation aktuell präsentiere, seien «zumindest für die Schulen keine wesentlichen Anpassungen notwendig».

Wenn es nur wenige Kinder pro Schule seien, die spontan aufgenommen werden, dann sei dies Dagmar Rösler zufolge im alltäglichen Ablauf und in der Organisation zu handhaben. Schwierig werde es, wenn sehr viele Kinder in eine Schule oder Klasse kommen. Dann brauche es «natürlich erst recht angemessene Unterstützung und entsprechende Ressourcen».

Deutschunterricht im Fokus

In jedem Fall brauche es laut Rösler zusätzlichen Deutschunterricht, «damit die ukrainischen Kinder eine Chance haben, sich möglichst schnell zu verständigen». Nach dem Einleben im fremden Umfeld sei der Deutschunterricht sicher mit das Wichtigste, das funktionieren sollte, so die LCH-Chefin zu blue News.

Da die wenigsten Lehrer*innen hierzulande Ukrainisch sprächen, könnten womöglich geflüchtete Lehrer*innen oder Mütter aushelfen, schlug Fredy Fässler an der Medienkonferenz vor. Auch kleine Spezialklassen könnten gebildet werden, so der Präsident der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD).

Konkreteres ist bereits aus dem Kanton Bern zu hören, wo man derzeit gemeinsam mit den Gemeinden und Schulen die benötigten Strukturen und Massnahmen erarbeite, wie die Bildungs- und Kulturdirektion auf Anfrage mitteilte. In Regionen mit wenig Kindern erfolge die Integration voraussichtlich in die Regelschulen mit zusätzlichen Lektionen «Deutsch als Zweitsprache» (DAZ). Wo es möglich sei, sollen die Intensivkurse Deutsch ausgebaut oder regionale «Willkommensklassen» eröffnet werden, so eine Sprecherin zu blue News.

«Die Schule ist als sicherer Ort für Geflüchtete zentral»

Laut Dagmar Rösler sei zudem davon auszugehen, dass Kinder traumatisiert hierzulande ankommen: «Der Umgang mit Traumata muss dringend ernst genommen werden.» Auch hier seien die Schulen auf zusätzliche Unterstützung von Fachpersonen und professionelle Unterstützung angewiesen. 

Die Lehrkräfte verfügten über viel Wissen und Können, «auch wenn es darum geht, Traumata zu erkennen und Betroffene zu begleiten», informiert die Berner Bildungs- und Kulturdirektion. Die Erziehungsberatung verfüge über spezifische Therapieangebote für traumatisierte Kinder.

Vergessen dürfe man aber auch die bestehenden Klassen und deren Schüler*innen nicht, gibt Dagmar Rösler zu bedenken. Auch diese müssten auf die neue Situation vorbereitet werden – dies brauche «Zeit und viel Einfühlungsvermögen vonseiten der Lehrerinnen und Lehrer», so Rösler zu blue News.

Dazu gehöre laut Zürcher Bildungsdirektion auch, die Schüler*innen auf die Kinder aus der Ukraine vorzubereiten und «bei Bedarf das Thema Flucht und Krieg altersgerecht zu besprechen». «Die Schule ist als sicherer Ort für Geflüchtete zentral», bringt es die Bildungsdirektion Bern auf den Punkt.

Wichtig erscheine ihr, so Dagmar Rösler zu blue News, dass die Schulen nicht allein gelassen werden – «auch wenn die beeindruckende Welle von Solidarität einmal abflachen sollte».