Attacke auf Frau am HB Zürich Psychologe: «Eritreer erleben oft Gewalt, die sie prägt»

Von Alex Rudolf

17.2.2023

Die mechanische Fallblattanzeige umgeben von Reisenden am Hauptbahnhof in Zuerich aufgenommen am 13. Oktober 2015. Die mechanische Anzeigetafel wird in der Nacht vom 19./20. Oktober 2015 im Zuercher Hauptbahnhof demontiert und durch LED-Technologie ersetzt. (KEYSTONE/Dominic Steinmann)
KEYSTONE/Symbolbild

Ein psychisch angeschlagener Mann aus Eritrea attackiert in Zürich eine Frau. Solche Fälle häufen sich in den letzten Jahren. Einer der Gründe: Viele psychische Erkrankungen werden nicht entdeckt, sagt ein Experte.

Von Alex Rudolf

17.2.2023

Am Sonntag schlug ein 26-jähriger Mann aus Eritrea am Zürcher HB auf eine 55-jährige Frau ein – auch noch, als diese blutend am Boden lag. Eine zu Hilfe eilende 16-Jährige attackierte er ebenfalls, bevor die Polizei den psychisch kranken Mann in Gewahrsam nehmen konnte.

Seit 2019 kam es in Deutschland und in der Schweiz zu zehn Fällen von psychisch kranken jungen Männern aus Kriegsgebieten, die scheinbar grundlos andere Passant*innen attackieren, wie «20 Minuten» schreibt. In sechs dieser Fälle endete die Attacke tödlich. Zudem heisst es, dass oft Eritrea das Herkunftsland der Asylsuchenden war.

Zur Person

Thomas Elbert ist emeritierter Professor für klinische Psychologie und Verhaltensneurowissenschaften an der Universität Konstanz und hat sich auf Trauma-Forschung spezialisert. Er betrieb Feldstudien in Afghanistan, Kongo, Ruanda, Somalia, Sri Lanka und Uganda.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Fällen und wie lassen Sie sich verhindern? blue News fragt beim Kriegspsychologen Thomas Elbert nach.

Herr Elbert, erleben wir derzeit tatsächlich eine Häufung von solchen Fällen wie jenem in Zürich?

Ob es sich tatsächlich um eine solche handelt, wissen wir nicht. Gebe ich jeweils ein Interview zu diesem Thema, schreiben mir immer Menschen, die ebenfalls Aggressionen von Personen aus Konfliktgebieten erfahren haben. Dabei erfahre ich Geschichten von Menschen, die beispielsweise einen Flüchtling bei sich aufgenommen haben, der nun plötzlich mit einem Messer zusticht.

Warum geschieht dies?
In Eritrea beispielsweise werden junge Männer oft zwangsrekrutiert und haben allenfalls in der Familie bereits Gewalt erlebt. Auch auf dem Weg nach Europa über das Mittelmeer oder die Balkan-Route machen sie zahlreiche Gewalterfahrungen, die sie prägen. Hier in der Schweiz haben sie die Hoffnung, Fuss zu fassen. Diese wird sich aber nicht – oder nur begrenzt – erfüllen.

«Der Asylsuchende geht nicht zum Doktor und sagt, er leide unter einer Belastungsstörung, sondern er sagt, er habe Kopfschmerzen – dann kriegt er ein Schmerzmittel.»

Wie meinen Sie das?
Sie werden nie Schweizer werden. Vielleicht haben sie Glück und finden einen Job und kommen über die Runden, doch durch die vielen lebensbedrohenden Erfahrungen kommen sie nicht zur Ruhe. Sie fühlen sich nach wie vor und oft bedroht. So gelangen sie nicht zu dem erhofften sozialen Status.

Wie kommt es zur Eskalation?
Durch Trigger oder Schlüsselreize, die das Alarmsystem des Menschen hochfahren. Dann kann man schnell aggressiv werden und zustechen. 

Werden posttraumatische Belastungsstörungen bei Migrant*innen oft entdeckt?
Sie müssten, weil in der EU ein psychologisches Screening gesetzlich vorgeschrieben wird. Würde man alle Migrant*innen aus Kriegsgebieten untersuchen, käme heraus, dass etwa 20 bis 30 Prozent unter einem Trauma leiden. Weil man aber keine Ressourcen für die Versorgung der Patient*innen hat, wird oft darauf verzichtet – auch in der Schweiz, wo die medizinische Versorgung Weltklasse ist.

Wie sehen solche Ressourcen aus?
Ist ein Mensch wegen seiner Erlebnisse beispielsweise suizidal, braucht es eine Sofortversorgung. Diese wird aber nicht bereitgestellt. Auch die Sprache stellt hier ein Problem dar. Denn der Asylsuchende geht nicht zum Doktor und sagt, er leide unter einer Belastungsstörung, sondern er sagt, er habe Kopfschmerzen – dann kriegt er ein Schmerzmittel.

Was wäre die Lösung?
Neue Methoden der Unterstützung beispielsweise. Menschen aus jeder Community sollen ausgebildet werden darin, Traumata und Schizophrenie zu erkennen – dazu braucht es kein mehrjähriges Studium. Diese Gesundheitspaten sollen das psychologische Screening machen, denn sie kennen auch die Lebensumstände der Flüchtenden. Im Kongo machen wir ein Pilotprojekt, bei dem reichen drei Monate Grundausbildung.