Epidemiologe «Die Entwicklung der letzten Tage lässt keine grossen Öffnungsschritte zu»

Von Andreas Fischer

18.3.2021

Der Basler Epidemiologe Jürg Utzinger sieht klare Indizien für eine dritte Welle, plädiert aber trotzdem für moderate Öffnungsschritte.
Der Basler Epidemiologe Jürg Utzinger sieht klare Indizien für eine dritte Welle, plädiert aber trotzdem für moderate Öffnungsschritte.
zVg / Swiss TPH

Moderate Lockerungsschritte trotz dritter Welle: Für den Direktor des Tropeninstituts Jürg Utzinger ist das kein Widerspruch. Der Fachmann erklärt, welche Massnahmen schnellstens ergriffen werden müssen und wie es nach der Pandemie weitergehen könnte.

Von Andreas Fischer

18.3.2021

Als die zweite Corona-Welle im Oktober und November die Schweiz erreichte, stiegen die Fallzahlen in kurzer Zeit auf 8000 bis 9000 Neuinfektionen pro Tag an. Der Bundesrat zögerte damals, einschränkende Corona-Massnahmen zu verhängen. Doch die Fallzahlen gingen erst signifikant zurück, nachdem der ungeliebte zweite Teil-Lockdown doch verhängt wurde.

Mittlerweile steigen die Fallzahlen wieder leicht: «Vieles deutet auf eine dritte Welle hin», sagte Gesundheitsminister Alain Berset am Freitag vor den Bundeshausmedien. Trotzdem schlägt der Bundesrat weitere Lockerungsmassnahmen vor. Der Basler Epidemiologe Jürg Utzinger, Direktor des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts, erklärt, warum das kein Widerspruch sein muss und wie die Schweiz die dritte Welle möglichst flach halten kann.

Zur Person
zVg / Swiss TPH

Jürg Utzinger ist Professor für Epidemiologie an der Universität Basel und leitet seit 2015 als Direktor das Schweizerische Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH). Seine Forschungsinteressen und Lehrtätigkeiten fokussieren auf die Epidemiologie, vernachlässigte Tropenkrankheiten und die Bewertung gesundheitlicher Auswirkungen von Grossprojekten in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen.

Gesundheitsminister Alain Berset sagte am vergangenen Freitag, die Schweiz müsse sich auf die dritte Welle vorbereiten: Ist sie nicht schon längst da?

Jürg Utzinger: Verschiedene Indizien weisen darauf hin, dass die Schweiz am Beginn einer dritten Welle steht. Die Fallzahlen nehmen seit ein paar Tagen wieder zu und die Reproduktionszahl ist vielerorts über dem Richtwert von 1.

Was sind die Gründe dafür?

Hier spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Zum Beispiel die ersten Öffnungsschritte Anfang März und der rasche Vormarsch der ansteckenderen britischen Virusvariante B.1.1.7. Allerdings ist die Datenlage zurzeit nicht hinreichend, um abschliessende Beurteilungen machen zu können. Das Verhalten der Bevölkerung, insbesondere das Einhalten der Schutzmassnahmen und die Bereitschaft sich impfen zu lassen, wenn die Impfkontingente dies zulassen, werden wichtige Rollen spielen.

Waren die Corona-Massnahmen nicht ausreichend?

Die Massnahmen waren entscheidend, um die hohen Fallzahlen im vergangenen November mehrmals zu halbieren, schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle zu reduzieren und das Infektionsgeschehen ganz allgemein zu minimieren. Es ist aber schwierig, Lockdown-Massnahmen langfristig aufrechtzuerhalten. Wir können doch die Bevölkerung nicht während Wochen oder Monaten einfach einsperren! Wir dürfen unsere Sicht nicht ausschliesslich auf die Fallzahlen richten; auch die mentale Gesundheit und das Wohlbefinden der Bevölkerung gehören in eine solche ganzheitliche Sicht. Die Leute wollen und müssen arbeiten – Homeoffice während Monaten ist leider nicht für alle möglich; da geht’s um Existenzen.

Ein Blick ins benachbarte Deutschland, wo im Februar und Anfang März die 7-Tages-Inzidenz tiefer war als in der Schweiz, zeigt: Trotz teils noch härterer Massnahmen konnte man die Fallzahlen nicht weiter senken. Es kam auch dort zu einer Stagnation und mittlerweile steigen die Fallzahlen auch in Deutschland wieder an.

Steigende Fallzahlen sind vielerorts in Europa und auf der Welt zu beobachten ...

Ja, trotzdem müssen wir die positiven Entwicklungen hervorheben: Dass wir innerhalb eines Jahres mehrere zugelassene Impfstoffe haben, ist schlichtweg grossartig und macht Hoffnung! Selbstverständlich haben wir nicht von heute auf morgen Impfstoffe in ausreichender Menge für die ganze Weltbevölkerung, aber es wird mit Hochdruck daran gearbeitet – auf der ganzen Welt.

Dass die Impfkampagne nun losgelegt hat und wir auch andere Public-Health-Massnahmen haben, um die Pandemie effektiv zu bekämpfen, ist eine ganz wichtige Botschaft. Selbstverständlich gehören auch relativ einfache Massnahmen wie Abstand halten, Masken tragen und Hygiene in dieses Repertoire. Übrigens: Diese Verhaltensanpassungen haben auch eine Auswirkung für die öffentliche Gesundheit. Die Grippewelle etwa ist in dieser Saison deutlich weniger akzentuiert ausgefallen.

Einige Experten haben gewarnt, dass B.1.1.7. zu einem extremen Anstieg führen würde. Mittlerweile setzt sich die Mutation schweizweit als dominante Variante durch: Erwarten Sie, dass die Fallzahlen wieder exponentiell steigen?

Studien belegen, dass die B.1.1.7.-Variante einfacher von Mensch zu Mensch übertragen wird. Somit liegt es auf der Hand, dass der R-Wert höher liegt als beim Wildtyp. Ist der R-Wert grösser als 1, steigt die Kurve exponentiell, dies ist in der Schweiz – und vielerorts in Europa – zurzeit der Fall. Wenn Varianten mit einem höheren R-Wert dominant werden, dann steigen die Fallzahlen bei gleichbleibenden Massnahmen schneller. Allerdings ist das nicht einfach nur Mathematik. Es kommt auf eine Vielzahl von Faktoren an: das Einhalten der Schutzmassnahmen und – ganz wichtig – eine hohe und rasche Durchimpfungsrate, wenn dann genügend Impfstoff zur Verfügung steht.

Welche weiteren Instrumente stehen zur Verfügung?

Auch ein rigoroses Testregime spielt eine Rolle. Damit können neue Infektionsherde schnell entdeckt und sofort gezielte Massnahmen eingeleitet werden, damit es nicht zu einem grossen Ausbruch kommt. Wie bereits erwähnt, weisen neue Resultate von Modellrechnungen darauf hin, dass die Impfungen eine zentrale Rolle spielen: Wir müssen schnell eine hohe Durchimpfungsrate erreichen, dann bekommen wir die Pandemie in den Griff. Daten aus Israel, wo innerhalb weniger Wochen ein Grossteil der Bevölkerung durchgeimpft wurde, bestätigen diese Modellrechnungen.

In der Schweiz machen sich solche Effekte zumindest bei älteren Menschen bereits bemerkbar: Die Fallzahlen sind seit dem Beginn der Impfkampagne signifikant gesunken.

In der Schweiz haben wir derzeit zwei zugelassene Impfstoffe und die nationale Strategie sieht vor, dass dieses zurzeit limitierte Gut in einer ersten Priorität bei den vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen zum Zuge kommt. Studien haben aufgezeigt, dass schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle mit dem Alter zunehmen, und so ist es aus Sicht der öffentlichen Gesundheit zentral, diese Bevölkerungsgruppe zu schützen und damit das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu bewahren. Dass die Impfung einen hohen Schutz aufweist, sollte bei einer hohen Durchimpfungsrate in den Altersheimen entscheidend dazu beitragen, dass in solchen Einrichtungen schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle stark reduziert werden.

Kann man deswegen davon ausgehen, dass bei einer allfälligen dritten Welle die Intensivstationen der Spitäler nicht mehr so stark ausgelastet sind wie während der zweiten Welle?

Eine solche Schlussfolgerung ist plausibel, hängt aber noch von anderen Faktoren ab wie neue Virusvarianten, Durchimpfungsrate etc. Ich gehe derzeit davon aus, dass die Intensivstationen nicht überlastet werden, weil bereits ein grosser Teil der vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen durch die Impfung geschützt ist und die Impfkampagne in den kommenden Wochen weiter an Fahrt gewinnt.

Breitet sich das Virus jetzt vor allem bei jüngeren Personen aus, weil die älteren immun sind?

Viele Daten weisen darauf hin. Deshalb ist es jetzt wichtig, Massnahmen weiterhin rigoros einzuhalten und die Impfkampagne in die Gänge zu bringen.

Was bringt in diesem Zusammenhang die neue Teststrategie des Bundes? Es müsste doch zu erwarten sein, dass mehr Fälle entdeckt werden, wenn häufiger getestet wird.

Je mehr wir testen, desto besser ist unsere Datenlage und desto besser können wir gezielt vorgehen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO gibt als Richtwert eine Positivitätsrate von 5 Prozent an – das heisst, eine von 20 getesteten Personen ist positiv. Diesen Wert benutzt auch der Bundesrat als einen der vier Richtwerte für weitere Öffnungsschritte.

In der Schweiz ist diese Positivitätsrate in den letzten Tagen leicht höher als 5 Prozent, und so sollte noch mehr getestet werden. Auch ganz gezieltes Testen – etwa bei Personal in Altersheimen, in Schulen, Betrieben – sollte ins Auge gefasst werden.

Was bedeutet es, wenn die Positivitätsrate zurzeit über dem Richtwert von 5 Prozent liegt?

Von den vier Richtwerten, welche die Schweiz für die Beobachtung der epidemiologischen Lage benutzt – Inzidenzrate, Positivitätsrate, R-Wert, Belegung der Intensivbetten – liegt im Moment nur die Belegung der Intensivbetten unter dem Richtwert. Diese Lage wird kaum zulassen, ein nächstes grösseres Paket an Öffnungsschritte zu schnüren. Und umso wichtiger ist es, Infektionsherde mit einer guten Teststrategie schnell zu eruieren, um gezielt gegen die Ausbreitung des Virus vorzugehen. Und abermals: Eine hohe und rasche Durchimpfungsrate ist der zentrale Schritt, um aus der Pandemie zu kommen.

Ist es ein Widerspruch, dass der Bundesrat trotz der beginnenden dritten Welle – egal wie steil oder flach sie ausfallen mag – Öffnungsschritte erwägt?

Es gibt sehr viele verschiedene Aspekte, die der Bundesrat abwägen muss, die Gesundheit der Menschen – über Covid-19-Fallzahlen hinweg –, die Bildung, die Wirtschaft etc. Es ist daher wichtig, Perspektiven aufzuzeigen und Lösungen zu finden, die verträglich für die Menschen sind, aber die auch nicht leichtfertig schwere Krankheitsfälle in Kauf nehmen und Leben aufs Spiel setzen. Dieses Abwägen zwischen hartem Lockdown und Lockerungen ist eine grosse Herausforderung.

Schafft der Bundesrat Ihrer Meinung nach diesen Spagat?

Ja, der Bundesrat schafft diesen Spagat. Vorsichtiges und schrittweises Öffnen ist richtig, und das muss daten- und faktenbasiert sein. Die epidemiologische Entwicklung der vergangenen Tage lässt keine grossen Öffnungsschritte zu. Wenn es allerdings gelingt, zügig mit der Impfkampagne voranzukommen und noch gezielter zu testen, können in ein paar Wochen weitere Öffnungsschritte ins Auge gefasst werden.

Wagen Sie eine Prognose, wie lange wir mit der Corona-Pandemie noch leben müssen?

Covid-19 wird uns noch Jahre begleiten. Wenn Sie den Flugsektor, die Tourismusbranche anschauen oder die Bildung: Die Auswirkungen der Pandemie werden uns lange beschäftigen. Das Virus selbst wird in den Hintergrund rücken, aber Kollateralschäden werden unser Leben noch lange beeinflussen – nicht nur in der Schweiz, sondern auf der ganzen Welt.

Und: Auf lange Sicht ist es durchaus plausibel, dass das Coronavirus nicht mehr epidemisch auftritt, sondern endemisch – und zum Beispiel regelmässig wiederkehrt und dann vor allem die jüngsten Bevölkerungsgruppen betrifft.