Michael Hermann über das Covid-Zertifikat: «Die Menschen machen eine Abwägung»
Der Polit-Geograf über die Entscheidung der Landesregierung, möglicherweise eine Verschärfung des Covid-Zertifikats einzuführen.
26.08.2021
Politgeograf Michael Hermann ist zuversichtlich, dass die Bevölkerung das Covid-Referendum ablehnen wird. Dazu würden auch die zahlreichen SVP-Exponent*innen beitragen, die sich für die Massnahmen aussprechen.
Herr Hermann, überrascht es Sie, dass der Bundesrat eine Kehrtwende vollzieht und eine Ausweitung des Covid-Zertifikats doch in Betracht zieht?
Vor einer oder zwei Wochen hätte es mich sehr überrascht. Bis vor Kurzem hütete sich die Regierung davor, zu viel Druck auf die Bevölkerung auszuüben. Doch angesichts der Entwicklung der Fallzahlen und der Auslastung der Spitäler ist dieser Schritt nicht mehr überraschend.
Michael Hermann
KEYSTONE
Michael Hermann ist Geograf und Politikwissenschaftler. Der 50-Jährige leitet die Forschungsstelle Sotomo und lehrt an der Universität Zürich.
Im November entscheidet das Stimmvolk über das Referendum zum Covid-Zertifikat. Welchen Einfluss hat eine Verschärfung der Corona-Massnahmen darauf?
Diese Abstimmung war ja ein wichtiger Grund für die bisherige Zurückhaltung des Bundesrats beim Covid-Zertifikat. Mit gutem Grund, denn eine Annahme des Zertifikats ist keineswegs garantiert. Die Erfahrung von letztem Herbst zeigt jedoch, dass die Bevölkerung eines noch weniger goutiert als strenge Massnahmen: Nämlich, wenn die Regierung ihre Führungsverantwortung nicht wahrnimmt. Vor einem Jahr liess der Bundesrat die Zügel schleifen und die Kantone machen. Das führte zu Chaos, explodierenden Fallzahlen und zu einem massiven Vertrauensverlust. Wenn sich die Situation weiter zuspitzt, muss der Bundesrat handeln, auch wenn ein Nein in der Abstimmung nicht auszuschliessen ist.
«Vor einem Jahr liess der Bundesrat die Zügel schleifen»
Kommt das Referendum durch?
Ich gehe eher nicht davon aus. Schon jetzt ist eine klare Mehrheit der Stimmberechtigten geimpft, bis in drei Monaten werden es noch mehr sein – und die haben wenig Grund, gegen die Vorlage zu sein. Unabhängig von einer Zertifikatspflicht wird der Druck zunehmen: Wer reisen will, muss sich wohl bald impfen lassen, viele Firmen werden es von ihren Mitarbeitenden verlangen. Für die Wirtschaft und wohl auch für eine Mehrheit der Stimmberechtigten ist es wichtiger, einen Lockdown als ein Covid-Zertifikat zu verhindern. Für die Impfgegner wird es ungemütlich.
Ist in ein paar Wochen der richtige Zeitpunkt für Verschärfungen?
Hätte der Bundesrat die Massnahmen schon vor drei oder vier Wochen umgesetzt, als die Lage noch bedeutend entspannter war, wäre dies in der Bevölkerung sicher auf weniger Verständnis gestossen. Die in der Schweiz sehr starke Haltung gegen zu viel staatliche Kontrolle und für mehr persönliche Freiheit hätte damals zu einem starken Gegenreflex geführt.
Wo sind diese Reflexe nun?
Bei der aktuellen Lage geht es für die Mehrheit um die Frage, wie wir diesen Herbst unbeschadet und vor allem ohne Lockdown überstehen.
Das klingt so, als wäre die Haltung der Bevölkerung einheitlich. Die Spaltung ist also Humbug?
Nein, die ist real. Das Thema Impfen ist sehr aufgeladen und emotional. Es betrifft alle Menschen direkt, da es um die eigene Gesundheit und um die körperliche Unversehrtheit geht. Dies stellten wir schon im Frühsommer im Rahmen einer Studie fest. Dabei zeigte sich, dass rund ein Viertel der Bevölkerung bereits Beziehungen zu Menschen abgebrochen hat wegen Uneinigkeit in Sachen Impfen.
Tut sich im Lager der Impfgegner ein neuer Graben auf? Einer zwischen jenen, die es sich leisten können, für eine Clubnacht oder ein Abendessen einen Covid-Test zu machen, und jenen, die das nicht können?
Interessanterweise ist Wohlstand einer der Faktoren, die Geimpfte und Ungeimpfte unterscheiden. Wer ein hohes Einkommen hat, ist deutlich häufiger geimpft. Einige Wenigverdienenden werden faktisch einem Impfzwang unterliegen. Am stärksten wird es jene treffen, die ihren Alltag nicht mehr ohne Zertifikat bestreiten können. Das sind auch wieder oft die wenig Verdienenden, die auswärts essen müssen, da Gutverdiener eher im Homeoffice arbeiten können.
Welche Rolle spielt eigentlich die SVP in der Pandemiebewältigung?
Ganz zu Beginn war sie ja eher auf der strengen Seite. Als erste Partei forderte sie geschlossene Grenzen und Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher trug als Erste eine Schutzmaske im Ratssaal. Bald schon positionierte sich die SVP aber ganz klar als Oppositionspartei gegen strenge Massnahmen. Der Tenor lautete, dass der Bundesrat nicht nur diktatorisch auftrete, sondern mit diesen Massnahmen auch völlig übertreibe. Damit hat sie – als stärkste Kraft im Land – zur Politisierung der Pandemie beigetragen.
Ist dies auch anderswo der Fall?
Die Lage in den USA ist vergleichbar. Dort machen die Republikaner ähnlich wie die SVP in der Schweiz die Corona-Massnahmen zum Politikum. In den USA gehen die Konservativen aber weiter und verweigern in der Regel auch eine Impfung. Diesbezüglich haben SVP-Exponenten eine andere Haltung.
Wie Roger Köppel, der jüngst medienwirksam seine Impfung bekannt gab?
Genau. Oder auch Christoph Blocher. Das Problem ist aber, dass SVP-Exponenten immer gesagt haben, die Massnahmen und somit auch die Angst vor Corona seien völlig übertrieben. Die Gefolgschaft nun von der Notwendigkeit einer Impfung zu überzeugen, ist da nicht ganz einfach.
Verliert die SVP an Glaubwürdigkeit?
Sie ist in einer schwierigen Lage, da der Konflikt innerhalb der Partei stattfindet. Lange konnte sich die SVP mit ihrer Rolle «Allein gegen alle» und gegen die Corona-Massnahmen profilieren, doch dies ist nun vorbei.
Was sagen Sie zum Ausscheren der SVP-Regierungsrät*innen? Hat es die Führung verpasst, diese auf Linie zu bringen?
Es ist normal, dass Exekutivmitglieder gemässigter unterwegs sind und zur Partei grössere Distanz haben. Unüblich ist hingegen, dass Exponenten, die nicht dem gemässigten Flügel der Partei angehören, bei einem Kernthema so prononciert gegen die Mutterpartei vorgehen. Sind Regierungsräte gegen die Haltung einer Partei, geben sie sich in der Regel zurückhaltend. Die Gesundheitsdirektor*innen der SVP sind nun aber im Auge des Sturms. Dies zeigt aber auch den Ernst der Lage.
Rechnen Sie damit, dass es zu Partei-Eintritten oder -Austritten kommt?
Vor einigen Wochen war ich noch davon überzeugt, dass die SVP Mitglieder gewinnen wird, da sie die Gegner*innen der Corona-Massnahmen ein Stück weit einte. Nun ist das Bild aber nicht mehr so eindeutig und eine Prognose abzugeben, ist schwierig.