Ein Dorf wird geräumt «Hoffentlich darf ich vorher sterben»

Von Anna Kappeler, Mitholz

31.12.2020

Ein Dorf wird geräumt – «hoffentlich darf ich vorher sterben»

Ein Dorf wird geräumt – «hoffentlich darf ich vorher sterben»

Ein ganzes Dorf muss geräumt werden, weil das ehemalige Munitionslager Mitholz laut Bundesrat noch immer gefährlich ist. Vor rund 70 Jahren haben neun Menschen ihr Leben verloren. Gemeindepräsident Roman Lanz im «blue News»-Interview.

07.12.2020

Ein ganzes Dorf muss geräumt werden, weil das ehemalige Munitionslager Mitholz laut Bundesrat noch immer gefährlich ist. Wie gehen die Bewohner mit dem Entscheid um? Eine Reportage aus dem Kandertal.

Es schneeregnet in Mitholz im Berner Oberland. Die Berge links und rechts der Strasse, die mitten durch das Dorf führt, werden vom Nebel verschluckt. Eine triste Stimmung. Sei’s drum, die Mitholzer haben andere Sorgen als das Wetter.

Das Beste von 2020

Zum Jahresende bringt «blue News» die Lieblingsstücke des ablaufenden Jahres noch einmal. Dieser Text erschien zum ersten Mal am 8. Dezember 2020.

Die rund 170 Bewohner*innen haben gerade erfahren, dass der Bundesrat ihr Dorf ab 2030 definitiv räumt. Sie alle evakuiert. Zehn Jahre lang sollen sie wegziehen. Ihre Häuser zurücklassen.

Verteidigungsministerin Viola Amherd hat die Bevölkerung mit einem Brief und einer Videobotschaft über den Beschluss informiert. Wegen der Corona-Pandemie kann keine Informationsveranstaltung durchgeführt werden, «nicht einmal das», wie eine Bewohnerin später sagt.

Nötig ist die Evakuierung des ganzen Dorfes, damit der Bund das dortige ehemalige Munitionslager – und also 3500 Tonnen Bomben und anderes Material – räumen kann. 1947 verloren bei einer Explosion dieses Lagers neun Menschen ihr Leben.

1947 verloren bei einer Explosion dieses inzwischen ehemaligen Munitionslagers neun Menschen ihr Leben. Das Dorf muss gleichwohl evakuiert werden.
1947 verloren bei einer Explosion dieses inzwischen ehemaligen Munitionslagers neun Menschen ihr Leben. Das Dorf muss gleichwohl evakuiert werden.
Bild: aka

Die Munition lagert noch immer im Berg gleich hinter dem Dorf. Und noch immer gehen davon Risiken aus, so der Bund. Was also tun? In den vergangenen zweieinhalb Jahren führten Arbeitsgruppen Risikoanalysen durch und erstellten weitere Berichte – und jetzt ist die Evakuierung Tatsache. 

Die Räumung sei bei einem «grossen Teil der Bewohnerinnen und Bewohner von Mitholz auf Zustimmung gestossen», heisst es in der Medienmitteilung des Bundes. Anders sieht das eine alte Frau. Sie steht auf dem Balkon ihres Holzhauses direkt an der Mitholzer Hauptstrasse, stützt sich auf einen Stock. «70 lange Jahre lang ist trotz Munitionslager nichts passiert – und jetzt müssen wir plötzlich unsere Heimat verlassen. Ich verstehe das nicht», sagt sie.

Der Blick der Frau verliert sich in der Ferne. «Diese Räumung macht mir Angst.» Sie macht eine Pause. «Ich hoffe, ich kann vorher sterben.»

«Mein Zuhause ist hier»

Wo solle sie denn hin in ihrem Alter, fragt sie rhetorisch. «Etwa nach Kandergrund? Was soll ich dort? Mein Zuhause ist hier. Hier bin ich geboren und aufgewachsen.» Kandergrund und Mitholz sind eine Gemeinde, und doch ist es keine wirkliche Einheit, wie wir später auch von einem Kandergrunder hören werden.



Wenige Häuser weiter verkündet ein Holzschild die Geburt von «Finn». Das Schild ist bereits vier Jahre alt. «Ja, ja», sagt die Frau, «nach der Räumung ist das Dorf für jüngere Generationen attraktiver.» Das verstehe sie. «Doch ich will nicht weg. Mein Haus wird während der zehnjährigen Evakuierungsphase doch baufällig. Wer zahlt das?» Mitholz werde zum Geisterdorf, fürchtet sie. (Lesen Sie hier, was Raumplaner dazu sagen.)

«Was soll man auch machen»

Der Wind weht einen Hauch Bauernhof-Duft herüber. Dorfauswärts und dann durch den Schnee geht es zum Bunkereingang, dem Tor zum Munitionslager. Hier, gleich hinter dem Dorf, lagern die Bomben im Berg. Eine etwa 60-Jährige mit Hund kommt entgegen. Auch sie findet deutliche Worte: «Ich will nicht weg.» Hier sei so ein schönes «Fleckli Erde». Dann seufzt sie. «Aber so ist es nun einmal. Was soll man auch machen.»

Blick auf das Dorf Mitholz. Der Bundesrat hat entschieden, dass dieses geräumt werden muss.
Blick auf das Dorf Mitholz. Der Bundesrat hat entschieden, dass dieses geräumt werden muss.
Bild: Keystone

Immerhin: Noch gehe es ja rund zehn Jahre, bis die eigentliche Räumung beginne. «Es ist wie mit der Corona-Krise: Viele hoffen auf einen rettenden Impfstoff», sagt die Frau. «Ich hoffe auf einen rettenden Technologie-Fortschritt, der uns Mitholzern die Räumung unseres Dorfes erspart.»

«Das ist heftig für die Bewohner»

Zeit für den Termin mit Roman Lanz, dem Gemeindepräsidenten von Kandergrund. Mit dem Bus geht es die wenigen Stationen von Mitholz talabwärts bis zur Gemeindeverwaltung Kandergrund. Der Buschauffeur sagt: «Das ist heftig für die Bewohner, dass sie ihr Dorf verlassen müssen.» Er kenne viele von ihnen. «Das tut mir wirklich leid für sie.»

Es ist Lanz’ fünftes Interview an diesem Tag, dabei ist noch nicht einmal Mittag. Der Gemeindepräsident ist froh, dass der Entscheid gefällt ist, das schaffe Klarheit. «Wir haben zweieinhalb Jahre auf diesen Moment hingearbeitet», sagt er. Man wolle die Altlasten wegräumen. «Es ist richtig, diese nicht auf andere Generationen zu übertragen.»

«Wir als Gemeinde stehen vor einer Herkules-Aufgabe»: Roman Lanz, Gemeindepräsident von Kandergrund.
«Wir als Gemeinde stehen vor einer Herkules-Aufgabe»: Roman Lanz, Gemeindepräsident von Kandergrund.
Bild: aka

Noch hat Lanz auf der Gemeinde keine Reaktionen der Bevölkerung erhalten. «Der Bundesrats-Entscheid muss nun verarbeitet werden», sagt er. Was das für die einzelnen Leute wirklich bedeute, könne man nur erahnen. «Wir als Gemeinde stehen vor einer Herkules-Aufgabe.» Man beginne nun sofort mit der Umsetzung. «Wir wollen die Leute eng begleiten und mit aller Kraft unterstützen», sagt Lanz.

«Die Leute hier im Tal ticken anders»

Zurück in der Kälte reisst der Himmel auf, die Sonne drückt durch den Nebel. Eine Wanderin will den Blausee umrunden. Sie kommt aus Thun. Natürlich kenne sie das Munitionslager, es sei auch in Thun ein Thema. Doch: «Die Leute hier im Tal ticken anders als wir.» Sie messe sich kein Urteil bei. Nur so viel: «Früher waren die Leute hier sehr militärfreundlich, weil das Lager Arbeitsplätze schuf.» Jetzt kippe die Stimmung.

Das Restaurant Altels vis-à-vis der Gemeindeverwaltung hat Ruhetag, genauso wie das Restaurant Balmhorn in Mitholz. Doch das Hotel und Restaurant Felsenburg beim Blausee hat offen. Es ist bestens ausgelastet mit Arbeitern und Tagesausflügerln.

Restaurant-Besitzer Markus Ryter vor seiner Felsenburg in Kandergrund.
Restaurant-Besitzer Markus Ryter vor seiner Felsenburg in Kandergrund.
Bild: aka

Nach der hektischen Mittagsphase hat Besitzer Markus Ryter Zeit für einen Espresso. Wie die alte Frau in Mitholz findet auch er es «schon etwas seltsam», dass man «nun plötzlich» das Dorf evakuieren wolle. «Aber jetzt ist es halt so», sagt Ryter. Seltsam deshalb, weil auch er selber früher in den 1980er-Jahren «als Sanitär im Militär-Bunker gearbeitet» habe.

«Umsiedlung ist uns allen ein Rätsel»

Ryter ist im Haus, das er heute führt, zur Welt gekommen und aufgewachsen. Er ist Kandergrunder durch und durch. Auf die Frage, was mit den Mitholzern geschehe, zuckt er die Schulter. «Vielleicht kann bei uns in Kandergrund für einige Mitholzer gebaut werden.» Er verstehe aber, dass das nicht alle Mitholzer wollen. «Wir sind zwar eine Gemeinde, aber wir leben schon auch getrennt voneinander.»

Ihn betreffe die Räumung und Evakuierung nicht direkt. «Solange der Durchgangsverkehr bestehen bleibt, ist meine Beiz auch weiterhin voll», sagt Ryter. «Aber für die Mitholzer, die ihre Häuser verlassen müssen, ist das richtig hart.» Er nennt konkret die Bauern: «Wie sollen sie und ihre Tiere umgesiedelt werden? Wie soll das gehen? Das ist für uns alle ein grosses Rätsel.»

«Das ist undenkbar hart»

Und was sagt Gemeindepräsident Lanz auf solche Bedenken aus der Bevölkerung? Dafür hat Lanz viel Verständnis. «Hier wohnen Familien mit drei Generationen, einige von ihnen waren noch nie weg aus Mitholz.» Jetzt evakuiert zu werden, sei undenkbar hart. «Hier Lösungen zu finden, verlangt uns in nächster Zeit alles ab.»

Die Angst, dass Mitholz zu einem Geisterdorf werde, bestehe, sagt auch der Gemeindepräsident. «Wir setzen alles daran, damit das Dorf nach der Evakuierung wieder besiedelt werden kann.» Fällt ein Fünftel einer Gemeinde weg, bringe das alles durcheinander.

«Ja, wir alle sind nun gefordert», sagt der Gemeindepräsident.

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