Corona-Tote Eine Zahl, 10'001 Schicksale

Von Andreas Fischer

28.4.2021

Die menschliche Katastrophe geht in der Anonymität der Zahlen unter: Seit Beginn der Pandemie sind in der Schweiz 10'001 Menschen an den Folgen des Coronavirus gestorben. Geredet wird über die Toten kaum.
Die menschliche Katastrophe geht in der Anonymität der Zahlen unter: Seit Beginn der Pandemie sind in der Schweiz 10'001 Menschen an den Folgen des Coronavirus gestorben. Geredet wird über die Toten kaum.
Symbolbild: Keystone

Das BAG meldet heute den 10'001. Corona-Todesfall in der Schweiz. Häufig wird eher über die Zahl geredet, als über die Menschen. Doch die Verstorbenen haben mehr Würde, die Hinterbliebenen mehr Trost verdient. 

Von Andreas Fischer

Der erste Todesfall war noch ein Mensch mit einer eigenen Lebensgeschichte. Am 5. März 2020 verstarb eine 74-jährige Frau aus dem Kanton Waadt im Unispital Lausanne an den Folgen ihrer Corona-Infektion. Die Waadtländer Gesundheitsvorsteherin Rebecca Ruiz hatte der betroffenen Familie damals in einer eilig anberaumten Medienkonferenz ihr Beileid ausgesprochen.

Heute hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in seinem täglichen Communiqué 19 neue Todesfälle vermeldet. Insgesamt sind seit Beginn der Pandemie somit 10'001 Menschen in der Schweiz an Covid-19 gestorben.

Sie sind mittlerweile vor allem Teil der Statistik. Man liest die Zahlen, nimmt sie zur Kenntnis, murmelt vielleicht noch ein paar Worte des Bedauerns. Viel mehr passiert in Gesellschaft und Politik nicht.



Über das Sterben am oder mit dem Coronavirus wird nicht viel geredet, der Tod ist eine relative Grösse geworden. Manchmal macht es den Anschein, als hätten die Toten nicht existiert. Das aber haben sie sehr wohl. 10'001 Tote, das sind 10'001 Schicksale: Menschen, die Familien hatten, Freunde, Nachbarn.

Austausch mit Gleichbetroffenen hilft

In einer Gesellschaft, die um einen angemessenen Umgang mit den Corona-Toten ringt, können sich die Hinterbliebenen schnell alleingelassen fühlen. Trost können sie etwa bei der Selbsthilfe Zürich finden, wo eine Selbsthilfegruppe für Hinterbliebene von verstorbenen Corona-Patienten lanciert wurde: «Der Austausch mit Gleichbetroffenen ist in schwierigen Situationen eine grosse Unterstützung», sagt Sozialarbeiterin Michelle Guggenbühl.

Einer der schon vorher Trost spendet, ist Thomas Grossenbacher. Der Pfarrer leitet die reformierte Seelsorge am Zürcher Triemli-Spital. «10'000 ist eine grosse Zahl, keine Frage. Als Seelsorger habe ich vor jedem Verlust eine grosse Achtung. Der ist immer mit Schmerz verbunden, bei den Sterbenden selbst und auch bei den Angehörigen», sagt Grossenbacher im Gespräch mit «blue News».

Dem Seelsorger ist es wichtig, nicht nur an die Pandemie-Toten zu denken: «In der Schweiz sterben pro Tag etwa 180 Menschen, laut Statistik des Bundes aus dem Jahr 2019, also vor Covid. Es ist wichtig, auch diese Menschen nicht zu vergessen, wenn man die Trauer über die Covid-Toten ins Licht holt.» In diesem Licht zu sehen, dass sich der Tod nicht hinausschieben lasse, «ist eine Realität, wir sind endlich». Das hätten wir in aller Hybris der Macher-Mentalität vergessen. «Jeder stirbt», sagt Grossenbacher. «Irgendwann einmal. An irgendetwas.»

Corona-Debatte ohne die Toten

Doch darüber werde in der Schweiz generell zu wenig geredet, sagt Altersforscher François Höpflinger in der «Zeit». Der emeritierte Professor für Soziologie der Universität Zürich sieht die Gründe dafür in einer generellen «Professionalität des Sterbens» und «Privatisierung des Todes».

Im Falle der Corona-Toten komme hinzu, dass viele der an Covid-19 gestorbenen Menschen zuvor in Altersheimen gelebt haben und sehr betagt waren: «Diese Toten sind nicht alltagsrelevant. Ihr Tod stört nicht.» Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung.



Der Schweiz fehlt eine Debatte darüber, wie mit dem Tod in Corona-Zeiten umgegangen wird. In die Covid-19-Task-Force des Bundes wurde erst Ende 2020 eine Sterbe-Expertin berufen. Die Genfer Palliativmedizinerin Sophie Pautex fordert, dass «das Sterben in der Pandemie mitgedacht wird». Anstatt der Zahlen sollten die Betroffenen im Mittelpunkt stehen. «Das würde uns die Toten, die ja Menschen waren, etwas näherbringen.»

Menschen sollen würdig und ohne viel Schmerzen und Leiden bis an ihr Lebensende begleitet werden können, fordert Pautex. Dies müsse auch in strapazierten Versorgungsverhältnissen und unter strengen Besuchsregelungen möglich sein.

«Das geht ans Herz»

Dies aber sei vor allem in der ersten Corona-Welle sehr schwierig für die Angehörigen gewesen, berichtet Grossenbacher. «Im Triemli liefen damals verschiedene Stationen am Limit. Das war anspruchsvoll für alle – für das medizinische Personal und für uns Seelsorgenden. Ich war halbe Tage lang auf den Stationen, in dem Tenue, das man von vielen Bildern kennt: Schutzanzug, Maske, selbst die Augen hinter einer Brille. Es ist eine schwierige Situation, wenn man vom anderen fast nichts mehr sieht. Das macht die Todesangst der Menschen noch grösser. Das geht ans Herz, nicht nur an die Physis, sondern ans Herz.»

Covid-Patienten hätten die Seelsorgenden «häufig nicht abholen können, weil sie schnell in die Beatmungssituation kamen. Wenn man einen Tubus legt, kann man nicht mehr sprechen, und man wird auch sediert. Es gibt vielleicht halbwache Zustände, in denen man mit Blickkontakt oder einem Händedruck noch einseitig kommunizieren kann und ein Feedback bekommt. Aber das hat natürlich nicht die Dichte und Differenziertheit, die wir sonst gewohnt sind».

Grossenbacher redet offen darüber, sich hilflos gefühlt zu haben. «Wir mussten erst herausfinden, wie wir es schaffen, dass Angehörige in einer Pandemie überhaupt Abschied nehmen können, dass das menschenmöglich gut geht, dass es aber auch verantwortbar ist, um das Virus nicht weiterzuverbreiten.»

Distanz macht den Abschied schwierig

Das Coronavirus habe die Art des Verabschiedens problematischer gemacht. «Sie ist von einem Ungenügen geprägt, weil man sich nicht darauf vorbereiten kann, wie es in anderen Fällen, zum Beispiel bei lange dauernden Krankheiten, möglich ist.»

«Sterben ist immer eine Konstante, Trauern ist immer eine Konstante», sagt Grossenbacher. Dass die Toten in der Pandemie nicht ernst genommen werden, sieht der Seelsorger nicht. «Es gibt unerhört viele Aspekte bei dieser neuen Form von Krankheit, die weltweit zugeschlagen hat. Viele Menschen haben nur von Ferne mitbekommen, wenn jemand gestorben ist. Gerade durch die gebotene Distanziertheit, wurde Intimität schwierig, weil sie Nähe und Vertrautheit voraussetzt, die den notwendigen Schutz bietet.»

Gleichwohl «haben wir noch viel nachzudenken, wie wir mit der Pandemie umgegangen sind, nicht nur wie wir es politisch gemacht haben. Wir haben eine Phase hinter uns und müssen nun Relektüre machen, auch um zu lernen, wie wir mit ähnlichen Situationen in der Zukunft umgehen. Wir werden weiterhin endlich sein, das ist nicht zu verhindern», sagt Grossenbacher und zitiert Pfarrer Kurt Marti mit einem Satz, der ihm selbst hilft das Leben in seiner Endlichkeit und den harten Einschnitten zu ertragen: «Preiset das Leben, das hart ist und schön.»