Ringier beurlaubt «Blick»-Chef «Die Leute lassen sich nicht mehr alles bieten»

Von Monique Misteli

8.3.2023

Christian Dorer, Chefredaktor der «Blick»-Gruppe, muss sechs Monate aussetzen, damit Vorwürfe gegen ihn «lückenlos» aufgeklärt werden können, wie es in einer Verlagsmitteilung heisst.
Christian Dorer, Chefredaktor der «Blick»-Gruppe, muss sechs Monate aussetzen, damit Vorwürfe gegen ihn «lückenlos» aufgeklärt werden können, wie es in einer Verlagsmitteilung heisst.
Keystone

Die Zwangsbeurlaubung des «Blick»-Chefredaktors wirft erneut einen Schatten auf Schweizer Medienhäuser. Wieso gerade diese Branche in letzter Zeit betroffen ist, will blue News von der Gewerkschaft Syndicom wissen.

Von Monique Misteli

Erneut rumpelt es in der Schweizer Medienbranche. Kurz vor Mittwochmittag ist publik geworden, dass Christian Dorer, Chefredaktor der «Blick»-Gruppe, ab kommendem Montag für sechs Monate zwangsbeurlaubt wird.

Ihm wird vorgeworfen, eine «bestimmte Gruppe von Mitarbeitenden bevorzugt» behandelt sowie «Privates und Geschäftliches zu wenig klar» abgegrenzt zu haben. Um die Anschuldigungen «lückenlos» aufklären zu können, sei die Auszeit auch im Sinne von Dorer selbst, lässt sich der noch amtierende Chefredaktor zitieren.

Die Zwangsauszeit von Dorer markiert eine weitere unrühmliche Zäsur in der hiesigen Medienbranche. Gut einen Monat ist es nun her, seit die Journalistin Anuschka Roshani ihrem ehemaligen Vorgesetzten bei der Tamedia-Samstagsbeilage «Das Magazin», Finn Canonica, Sexismus und Mobbing vorgeworfen hat.

Der Gastartikel im deutschen «Spiegel» hat ein grosses mediales Echo ausgelöst. Im Frühjahr 2021 protestierten 78 Journalistinnen des Tamedia-Verlags gegen eine «sexistische Arbeitskultur», wie sie das Klima beim anderen grossen Familienunternehmen der Schweizer Medienbranche beschrieben.

Aber auch der im Herbst 2020 bekanntgewordene Fall von RTS, dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen der Westschweiz, wonach der Moderator der dortigen «Tagesschau» jahrelang Mitarbeiter*innen sexuell belästigt haben soll, hat grosse Bestürzung ausgelöst.

Und dies sind nur die jüngst publik gemachten mutmasslichen Vorfälle.

Was ist da los in der Schweizer Medienbranche? blue News hat bei Stephanie Vonarburg von der Mediengewerkschaft Syndicom nachgefragt.

blue News: Frau Vonarburg, war die Zwangsbeurlaubung von «Blick»-Chef Christian Dorer absehbar?

Vonarburg: Was Herr Dorer vorgeworfen wird, hätte ich jetzt so nicht erwartet. Es fällt aber schon auf, dass Kadermänner in grossen Schweizer Medienhäusern vermehrt zurückgestuft werden, zurücktreten oder eben eine Auszeit nehmen müssen, um Vorwürfe gegen deren Führungsstil abzuklären.

Welche Symbolkraft hat die angeordnete Auszeit von Herrn Dorer für die Branche?

Dass Medienunternehmen nicht mehr systematisch wegschauen, dass die ausgearbeiteten Firmenreglemente, die sogenannten Code of Conduct, greifen und dass personelle Konsequenzen drohen. Das ist eigentlich die Quintessenz von all den Fällen, die in der jüngeren Vergangenheit ans Licht gekommen sind.

Verzeichnen Sie bei Syndicom mehr Anfragen oder Meldungen wegen Sexismus, Mobbing und Machtmissbrauch auf Redaktionen?

Seit dem letzten grossen Frauenstreik 2019 ist spürbar, dass sich medienschaffende Frauen vermehrt über ihre Erfahrungen bezüglich Sprücheklopfen, sexistischer Handlungen oder Machtmissbrauch austauschen und mutiger werden, darüber zu sprechen. Dafür wurd auch der Hashtag #mediatoo ins Leben gerufen. Bisweilen ist es aber erst in seltenen Fällen zu rechtlichen Schritten und Prozessen gekommen. Daher werden sich die Medienfrauen auch dieses Jahr am feministischen Streik beteiligen.

Warum werden solche Missstände in der Medienbranche erst seit wenigen Jahren publik?

Weil es halt noch immer so ist, dass die Schweizer Medienhäuser sehr männlich geprägte Führungsstrukturen haben. Das wiederholte Thematisieren seit 2019 löst aber etwas aus. Nämlich, dass sich die Leute nicht mehr alles bieten lassen und eine Debatte stattfinden kann. Doch um etwas zu ändern, braucht es einen langen Atem, das geschieht nicht von heute auf morgen.

Was fordern Sie als Gewerkschaft, damit der Kulturwandel vorwärts geht?

Als Gewerkschafterin sage und fordere ich, dass die Vorwürfe sauber abgeklärt werden. Dabei ist essentiell, dass die Hinweisgeber*innen ernst genommen und geschützt werden. Solche Missstände müssen auch wirklich geahndet und Konsequenzen gezogen werden. Immer mit dem Ziel vor Augen, eine bessere Unternehmenskultur zu gestalten.

Ausserdem muss es interne wie externe niederschwellige Anlaufstellen geben, wo sich Betroffene einfach melden können. Man sollte die Wahl haben, ob man das im Verlag platzieren möchte oder bei jemandem Unabhängigem ausserhalb. Zum Sensibilisieren haben wir den Ratgeber «Belästigung und Sexismus in den Redaktionen: Was tun?» erstellt, der auf der Website zugänglich ist.

Heisst das, dass es in absehbarer Zukunft zu weiteren Rochaden in den Führungsetagen der Medienhäuser kommt?

Konkrete Hinweise habe ich nicht, kann es mir aber gut vorstellen. Die jüngsten Fälle sind doch ein Signal, dass wir einen anderen Umgang wollen. Einen ohne Diskriminierung, der kein Terrain für Mobbing bietet, schon gar nicht Belästigungen und Sexismus. Das soll für die Personalführung wie auch für die Medieninhalte gelten. Wir schreiben immerhin das Jahr 2023.