13 Tage festgebundenGericht spricht Ärzte von «Carlos» frei – und entschädigt sie mit 120'000 Franken
Von Jennifer Furer
26.8.2020
Die Verteidiger der drei Ärzte, die «Carlos» 13 Tage festgebunden hatten, plädierten vor Gericht auf Freispruch. Der Zürcher Richter sah das gleich. Er sprach für die Psychiater jeweils eine Prozessentschädigung von 40'000 Franken aus.
Plötzlich klingelt das Telefon. Der Verteidiger eines Arztes unterbricht auf Bitten des vorsitzenden Richters sein Plädoyer. Die Gerichtsschreiberin hebt den Hörer ab. Wenig später flüstert sie dem Richter etwas zu. Dieser erhebt seine Stimme und sagt: «Brian K. möchte gerne zurück in die Justizvollzugsanstalt Pöschwies.»
Brian K., der unter dem Pseudonym «Carlos» bekannt wurde, durfte als Privatkläger in einem Raum den Prozess per Videoübertragung mitverfolgen. Für die An- und Abreise sowie die Betreuung während des Prozesses wurden Polizisten der Spezialeinheit Diamant eingesetzt.
Das Urteil bekam Brian K. wegen seines Wunsches zurück ins Gefängnis gehen zu dürfen nicht mehr live mit. Dieses verkündete der vorsitzende Richter um 19 Uhr: Freispruch für alle drei Psychiater, die dem Vorwurf der Freiheitsberaubung ausgesetzt waren. Sie sollen sich strafbar gemacht haben, weil sie Brian K. 13 Tage lang in der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK) unverhältnismässig festgebunden haben.
Vorgeschichte von Brian führt zu Freispruch
Nebst dem Freispruch sprach das Bezirksgericht Zürich den drei Beschuldigten jeweils 40'000 Franken Prozessentschädigung für die amtliche Verteidigung zu.
Der vorsitzende Richter begründete sein Urteil unter anderem mit Brians Vorgeschichte. Er sass in Untersuchungshaft, weil er einem anderen Jungen ein Messer in den Rücken gerammt und im Gefängnis Mitarbeitende attackiert hat.
Brian habe sich zudem nicht von einer Selbst- und Fremdgefährdung distanziert und sich nicht darum bemüht, die für eine Therapie benötigte Kommunikationsbasis herzustellen.
«Extreme Ausnahmesituation»
Er habe die Psychiater bedroht und sich nicht kooperativ gezeigt. Eine Fixierung von 13 Tagen war laut dem vorsitzenden Richter verhältnismässig und die einzige Alternative – unter anderem, weil Brian K. ein hohes Gewaltpotenzial gezeigt hat. Ohnehin sei die Verhältnismässigkeit durch die Ärzte nicht bewusst und vorsätzlich verletzt worden.
Eine Rückkehr ins Gefängnis sei zudem nicht möglich gewesen und auch die PUK habe sich nicht für eine Unterbringung von Brian K. geeignet. «Es herrschte eine extreme Ausnahmesituation, in der die Ärzte richtig gehandelt haben», resümierte der Richter.
Fehler im System zu suchen
Mit dem Freispruch folgte das Bezirksgericht Zürich den Anträgen der Verteidiger der Psychiater. Den Vorwurf der Staatsanwaltschaft taten die Verteidiger unisono als haltlos ab. «Die von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafen lassen ausser acht, dass eine absolute Ausnahmesituation vorherrschte», sagte der Verteidiger des Hauptbeschuldigten, der für Brian zuständige und verantwortliche Arzt, in seinem Plädoyer.
Darum ging es am Prozess
Drei Psychiater des Jugendstraftäters «Carlos», der Brian heisst und auch so genannt werden möchte, mussten sich am Mittwoch vor dem Bezirksgericht Zürich verantworten. Sie sollen 2011 den damals 15-Jährigen in der psychiatrischen Universitätsklinik PUK in Zürich, im Volksmund auch «Burghölzli» genannt, 13 Tage lang festgebunden haben.
Brian ist laut Anklage mit Gurten fixiert und mit acht Medikamenten «stark sediert» worden. Er soll sich in einer «absoluten Bewegungslosigkeit» befunden haben.
Die Massnahme sei vom Hauptbeschuldigten verordnet und von zwei weiteren Ärzten, darunter ein Vorgesetzter, gestützt worden. Auch diese müssen sich am Mittwoch vor dem Bezirksgericht Zürich verantworten.
Eine Fixierung sei unumgänglich gewesen. «Sie war die einzige Möglichkeit, wie mit dem extrem gewaltbereiten Täter umgegangen werden konnte», so der Verteidiger. Die einzig sichere Unterbringung sei in der Klinik Rheinau möglich gewesen, die PUK sei nicht geeignet gewesen. In Rheinau habe es vorerst aber keinen Platz gegeben.
«Die Beschuldigten können nicht für einen systematischen Fehler belangt werden», so der Verteidiger des Hauptbeschuldigten.
Das sah auch der Verteidiger des direkten Vorgesetzten des Beschuldigten so. Dieser soll in Mittäterschaft an der Freiheitsberaubung gehandelt haben, wirft die Staatsanwaltschaft ihm vor. «Es gab keine einzige geeignete Institution für Herrn Brian K.»
Leitfaden ist nicht Gesetz
Die Ärzte hätten grösste Bemühungen unternommen, um dennoch eine geeignete Einrichtung zu finden. «Mein Mandant hat einen Forensiker aufgeboten und sich um einen Platz in der Klinik Rheinau bemüht. Er hat alles gemacht, um die Fixierung möglichst kurzzuhalten», so der Verteidiger.
Dass diese lange gedauert hat, sei verhältnismässig. Richtlinien, die Stunden für diese Massnahme propagieren, seien als Leitfaden zu sehen und nicht als Gesetz.
Eine Rückkehr ins Gefängnis sei zudem nicht möglich und das Isolierzimmer der PUK sei keine Alternative gewesen, so der Verteidiger.
Grund: Suizidgefährdete Personen würden nicht in Isolierzimmer untergebracht. Das Zimmer sei wegen der akuten Selbst- und einer Fremdgefährdung nicht geeignet gewesen. Letztere sei ohne Zweifel gegeben, so der Verteidiger. Brian habe im Gefängnis kochendes Wasser auf einen Wärter geschüttet und einen anderen mit der Faust niedergestreckt.
Psychiater als «Hunde» beschimpft
«Er beschimpfte und bespuckte auch die Ärzte in der PUK», so der Verteidiger weiter. Brian K. sei nicht kooperativ gewesen, distanzierte sich nicht von seinen Drohungen und Suizidversuchen. «Es bestand eine ernsthafte Gefahr für Leib und Leben.»
Es sei in der Hand von Brian K. gelegen ein sogenanntes Arbeitsbündnis, also ein Versprechen sich selbst und anderen nichts anzutun, herzustellen. Er habe dieses aber nicht gewollt und die Psychiater als «Hunde» beschimpft.
Doppelrolle der Staatsanwaltschaft
Auch der dritte Verteidiger, dessen Mandant zum Zeitpunkt der Fixierung die Klinikdirektion innehatte, strich die Unschuld der Ärzte in seinem Plädoyer heraus: «Es ging um die Gesundheit der Mitarbeitenden, des Patienten und der anderen Patienten der Klinik und überhaupt um die Aufrechterhaltung deren Betriebs.»
Eine stündliche Überprüfung der Fixierung sei wenig sinnvoll, da es sich abgezeichnet habe, dass die Massnahme über längere Zeit vollzogen werden muss. Richtlinien, die das fordern, würden nicht von einem solchen Einzelfall ausgehen, wie er bei Brian K. gegeben war, sagte der Verteidiger.
Entschuldigung zum Schluss
Zum Schluss hatten die drei Beschuldigten das Wort. «Es tut mir leid, dass Herr K. so lange fixiert werden musste», sagte der Beschuldigte, welcher der direkte Vorgesetzte des verantwortlichen Arztes war. Er sei immer gegen Zwangsmassnahmen gewesen und würde diese nur in absoluten Ausnahmefällen anwenden. «Ich wünsche Herr K., dass er einen besseren Weg einschlagen wird.»
Die Worte unterschrieb auch der Hauptbeschuldigte. «Ich wünsche Herr K. alles Gute», sagte er.
Anwalt von Brian will Tätigkeitsverbot
Am Morgen des Prozesstages hielten der Staatsanwalt und der Anwalt von Brian ihre Plädoyers zu den Vorwürfen, die sie gegen die drei Ärzte erhoben haben. Der Staatsanwalt forderte für den Hauptbeschuldigten eine bedingte Freiheitsstrafe von 14 Monaten und für die Mittäter eine bedingte Geldstrafe zwischen 31'500 und 32'500 Franken.
Der Verteidiger ging noch weiter. Er wollte nichts von einer Mittäterschaft wissen, sondern sah alle als Haupttäter an, die alle zur Verantwortung gezogen werden müssen. Er forderte für alle drei ein Tätigkeitsverbot.
Vor den Plädoyers wurden die Ärzte befragt. Sie wissen jegliche Schuld unisono von sich. Grund: Es habe eine erhebliche Selbst- und Fremdgefahr bestanden.
«Carlos», der Brian heisst und auch so genannt werden will, sorgt seit August 2013 immer wieder für Schlagzeilen. In einer SRF-Sendung wurde damals sein Fall vorgestellt.
Der Sohn eines Schweizers und einer Brasilianerin wurde mit einer Sonderbehandlung betreut – ein Resozialisierungsprogramm für schwer erziehbare Jugendliche. Kostenpunkt: Über 29'000 Franken pro Monat. Zu diesem Zeitpunkt war der damals 17-jährige Carlos schon 34-mal wegen verschiedener Delikte verurteilt worden.
Es folgte eine Odyssee durch Gefängnisse, Kliniken und Gerichtssäle.
Das Bezirksgericht Dielsdorf schickte Brian schliesslich in eine stationäre Massnahme, auch
«kleine Verwahrung» genannt. Dabei werden psychische Störungen behandelt.
Alle fünf Jahre wird überprüft, ob die Therapie anschlägt oder ob weitere fünf Jahre notwendig sind. Angeklagt war Brian vor dem Bezirksgericht Dielsdorf, weil er im Gefängnis Pöschwies randaliert und mehrere Personen verletzt hatte.