Experte zum Genfer Gipfel «Was für den Westen das Problem ist, ist für Putin die Lösung»

Von Gil Bieler

17.6.2021

Der russische Präsident Wladimir Putin verlässt nach seinem Treffen mit US-Präsident Joe Biden die Villa la Grange in Genf.
Der russische Präsident Wladimir Putin verlässt nach seinem Treffen mit US-Präsident Joe Biden die Villa la Grange in Genf.
Bild: AP Photo/Alexander Zemlianichenko

Für Wladimir Putin ist der Genfer Gipfel mit Joe Biden ein Erfolg. Wie der Kreml-Chef sich mit dem neuen US-Präsidenten arrangieren könnte und wie er im Fall Nawalny taktiert – ein Experte ordnet ein. 

Von Gil Bieler

17.6.2021

Fast dreieinhalb Stunden nahm sich Joe Biden in Genf Zeit für Wladimir Putin: Der Kreml-Chef kann mit der Aufmerksamkeit, die ihm der mächtigste Mann der Welt entgegenbringt, mehr als zufrieden sein. «Den Gipfel kann Putin natürlich als grossen Erfolg verbuchen», sagt Russland-Experte Ulrich Schmid von der Universität St. Gallen im Gespräch mit «blue News».

Dabei geht es um die Wahrnehmung in Russland: «Dass der Kreml immer mit rechtsnationalistischen Parteien assoziiert wird, passt Putin überhaupt nicht.» Er wolle sich viel lieber mit etablierten Politikern zeigen. Aus dieser Überlegung habe Putin zum Beispiel auch an den Minsker Gesprächen von 2015 teilgenommen, um so mit dem französischen Staatschef Emmanuel Macron und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel über den Ukraine-Konflikt zu beraten. Wobei dieser überhaupt erst durch russische Einwirkung entstanden ist.

Schluss mit Trump

Biden amtet seit Januar im Weissen Haus und schlägt einen deutlich anderen Ton an als der letzte US-Präsident. «Mit Donald Trump hatte Putin natürlich leichtes Spiel. Die beiden hatten eine ähnliche, nämlich autoritäre Auffassung von Staatsführung und haben sich gegenseitig Honig ums Maul geschmiert», sagt Schmid, der an HSG Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands ist. «Mit Biden sieht sich Putin nun ebenfalls einem alten Fuchs gegenüber.»

Das Treffen habe gezeigt, dass die beiden Politik-Veteranen Realisten seien. Sie würden nicht unbedingt eine Kooperation anstreben: «Es geht ihnen um eine pragmatische Arbeitsbeziehung innerhalb einer Konfliktsituation.» Denn die Differenzen blieben in allen grossen Themen immens.

Hat Putin denn überhaupt ein Interesse an einer Verbesserung der Beziehungen zu den USA? Immerhin hat ihm erst seine Rolle als geopolitischer Störfaktor die Aufmerksamkeit und damit das Genfer Tête-à-tête eingebracht.

«Natürlich will er bessere Beziehungen», sagt Schmid. So hoffe er auf eine Aufhebung oder zumindest Lockerung der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland. Und generell sei die Situation auch aus russischer Sicht unbefriedigend: Das übergeordnete Ziel der russischen Aussenpolitik sei, dass es kein internationales Thema mehr gebe, zu dem Moskau nicht befragt werde. «Putin will die Aufmerksamkeit, aber nicht als Störfaktor, sondern auf Augenhöhe.»



Beispiel Cyberkriminalität: Der US-Sonderermittler Robert Mueller kam eindeutig zum Schluss, dass sich Russland in die US-Wahlen von 2016 eingemischt hatte, und auch mehrere weitere Cyberattacken sollen aufs Konto russischer Hacker gehen. «Wenn Russland den USA nun vorschlägt, gemeinsam gegen Cyberkriminalität vorzugehen, ist das natürlich blanke Ironie», sagt Schmid. «Aus westlicher Sicht würde man da den Bock zum Gärtner machen.»

Das Kalkül dahinter: Die Amerikaner müssten eine Zusammenarbeit ohnehin ausschlagen, doch kann der Kreml so die Schuld an der fehlenden Kooperation den USA geben.

Nawalny hat den Kreml auf dem falschen Fuss erwischt

In Genf wurde Putin auch mit kritischen Fragen zum Schicksal des inhaftierten Kreml-Kritikers Alexej Nawalny konfrontiert. Wie bewertet der Experte Bidens Ankündigung von «ernsthaften Konsequenzen», sollte Nawalny in Haft sterben? «Daran hätte auch Putin kein Interesse.» Der Status quo – Nawalny hinter Gittern – sei für den Kreml ausreichend – wenn auch nur die zweitbeste Option.

«Der Kreml hatte gar nicht erwartet, dass Nawalny nach Russland zurückkehrt. Vielmehr hatte man gehofft, dass er im Ausland bleibt und so zu einem zweiten Michail Chodorkowski wird, einem Exil-Oppositionellen.» Vor seiner Festnahme sei Nawalny in Russland selbst nur den wenigsten bekannt gewesen – mittlerweile gebe es auf der Website des russischen Staatsfernsehens sogar eine eigene Rubrik zu seiner Person. In den Staatsmedien werde er als Neonazi und Terrorist dargestellt.



Putin hatte Nawalnys Festnahme vor den Medien in Genf verteidigt und gesagt, dieser habe genau gewusst, dass ihm die Festnahme drohe. Er habe die Meldepflicht bei der russischen Justiz bewusst ignoriert. Wobei natürlich unerwähnt blieb, dass der Oppositionelle sich in Deutschland behandeln lassen musste, weil er Opfer eines Giftanschlags geworden war. Das Nawalny-Lager reagiert daher auch empört auf Putins Äusserungen.

«Keine guten, einfach berechenbare Beziehungen»

Nach dem Gipfeltreffen in Genf sehen sowohl die amerikanische als auch die russische Seite Zeichen der Annäherung. Ein Anfang ist gemacht – aber was ist nach den Genfer Gesprächen zu erwarten? «Die amerikanische Seite hat es ziemlich klargemacht: Man will keine guten, sondern einfach berechenbare Beziehungen», so Schmid. «Man sucht Möglichkeiten zur Kooperation, obwohl man weiss, dass man in den grossen Fragen nicht einer Meinung ist.»

Eine Möglichkeit aus russischer Sicht wäre die atomare Rüstungskontrolle. Hier beschlossen Biden und Putin auch Gespräche mit dem Ziel, weiter abzurüsten.

Die Gefahr eines offenen oder eines neuen Kalten Krieges sieht Schmid nicht. Zumindest für Russland gebe es keinen Anlass für eine weitere Eskalation. Es gehe vielmehr darum, den Status quo zu wahren. Solange die Ukraine und auch Georgien mit inneren Konflikten – befeuert durch Russland – destabilisiert seien, sei ein Nato-Beitritt dieser Länder ausgeschlossen. «Was für den Westen das Problem ist, ist für Russland die Lösung.»

Ob sich auch der neue Mann im Weissen Haus mit dem Status quo arrangiert? Biden sagte in Genf, er habe Putin eine Liste mit kritischer Infrastruktur in den USA überreicht und klargemacht: Cyberangriffe auf diese Ziele hätten schwerwiegende Konsequenzen.