Fall Günther Tschanun So kommen Straftäter zurück in die Freiheit

Von Lukas Meyer

13.4.2021

Er erhielt nach seiner Entlassung einen neuen Namen: Günther Tschanun vor dem Gerichtsgebäude in Zürich.
Er erhielt nach seiner Entlassung einen neuen Namen: Günther Tschanun vor dem Gerichtsgebäude in Zürich.
KEYSTONE

Günther Tschanun tötete 1986 vier Mitarbeiter und wurde wegen Mord zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach seiner Freilassung lebte er unter neuem Namen im Tessin. Wie gelingt die Resozialisierung von Straftätern?

Von Lukas Meyer

13.4.2021

Günther Tschanun war Chef der Baupolizei der Stadt Zürich, als er 1986 vier Mitarbeiter mit gezielten Kopfschüssen tötete. Das Zürcher Obergericht verurteilte ihn erstinstanzlich wegen vierfacher vorsätzlicher Tötung zu 17 Jahren Zuchthaus. Das Bundesgericht hob das Urteil auf, das Obergericht verurteilte Tschanun daraufhin wegen Mordes und erhöhte die Strafe auf 20 Jahre.

Tschanun kam 2000 nach 14 Jahren frei. Sein zweites Gesuch um vorzeitige Haftentlassung war bewilligt worden, mehrere Gutachten gingen davon aus, dass keine Rückfallgefahr bestehe. Er lebte unter dem Namen Claudio Trentinaglia im Tessin. Dort starb er 2015 im Alter von 73 Jahren nach einem Velounfall, wie der «Tages-Anzeiger» berichtet.

Nur eine Handvoll Leute wusste von seinem neuen Leben, sagt Autorin Michèle Binswanger gegenüber persoenlich.com. Eine kleine IV-Rente sei ihm über eine Stelle in Appenzell ausbezahlt worden. Im Tessin habe er zurückgezogen und bescheiden gelebt und wahrscheinlich alle Brücken zur Vergangenheit abgebrochen. «Er hatte panische Angst vor Verrat und davor, dass seine Identität auffliegen könnte», so Binswanger.

Tschanun sei zu einer Freundin im Tessin gezogen, zu den Nachbarn hatte er teilweise Kontakt, schreibt der «Blick». Sein Italienisch sei trotz seines neuen, italienisch klingenden Namens brüchig gewesen, sagt eine ehemalige Nachbarin. Ein anderer Nachbar erinnert sich an einen geselligen Menschen mit guter Laune, der zum Grillieren mit einer Flasche Merlot vorbeikam.

Dass entlassene Straftäter wie Günther Tschanun einen neuen Namen bekommen, gibt es nicht oft. Die Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich führt dazu keine Statistik, wie sie auf Anfrage sagt: «Wir gehen aber davon aus, dass dies höchst selten der Fall ist.» Das ist auch im Aargau so, sagt Pascal Payllier, Chef des Amts für Strafvollzug: «In den vergangenen 15 Jahren ist im Kanton Aargau kein solcher Fall bekannt.»

Wiedereingliederung in Gesellschaft fördern

Was ist grundsätzlich wichtig, wenn ein Straftäter aus der Haft entlassen wird? Patrick Cotti, Direktor des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Strafvollzug (SKJV), erklärt auf Anfrage von «blue News»: «Strafen und Massnahmen haben zum Ziel, dass eine Person einen selbstständigen Weg ohne neue Delikte in Freiheit gehen kann. Wenn immer möglich, sollte eine Inhaftierung die psychische und auch körperliche Stabilität einer Person stärken und den Eintritt in ein tragendes Umfeld ausserhalb der Gefängniswelt ermöglichen.» Ein soziales Umfeld, das eine gute Struktur biete, sei zentral – zum Beispiel möglichst gesicherte Wohn- und Arbeitsverhältnisse, betont auch Pascal Payllier, Chef des Amts für Strafvollzug des Kantons Aargau.

Die Personen sollen vor neuer Straffälligkeit bewahrt und ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft gefördert werden, heisst es bei der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich. Der Straf- und Massnahmenvollzug erfolge wenn immer möglich in Form des Progressionsvollzugs, in dem bis zur endgültigen Entlassung verschiedene Lockerungsstufen durchlaufen werden.

Dabei werden sie durch verschiedene Angebote im Justizvollzug unterstützt, etwa therapeutische, seelsorgerische, medizinische und sozialarbeiterische Interventionen sowie Arbeit und Bildung, sagt Patrick Cotti. «Inhaftierte Personen sollen so behandelt werden, als würden sie nach Entlassung ihre direkten Nachbarn werden.»

Grundvoraussetzung für das Gelingen der Resozialisierung ist laut Cotti der Wille einer inhaftierten Person, aus Fehlern zu lernen. «Genauso wichtig schliesslich ist die Unterstützung dieser Person durch ihre Familie und Freunde, ihre nächste Umgebung, auch die konstruktive Auseinandersetzung im System Justizvollzug.»

«Schwere wird unterschiedlich wahrgenommen»

Nach vollständiger Verbüssung der Freiheitsstrafe gelten bei für schwere Straftaten verurteilten Personen grundsätzlich die gleichen Kriterien betreffend sozialem Umfeld und guter Struktur, sagt Pascal Payllier, aber: «Dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit folgend, müssen noch mehr Anstrengungen unternommen werden zur Vorbereitung des sozialen Empfangsraums als bei niederschwelligen Delikten.» Ausserdem seien die Anforderungen für eine bedingte Entlassung nach frühestens zwei Dritteln der Strafe deutlich höher. 

Patrick Cotti vom SKJV sagt: «Die Schwere eines begangenen Delikts wird von unterschiedlichen Personen auch unterschiedlich wahrgenommen. In den allermeisten Fällen besteht auch die Selbsterkenntnis, falsch gehandelt zu haben.» Die Schwere eines Delikts werde im Gefängnis gleich beurteilt wie sonst in der Gesellschaft. «Nicht zu vernachlässigen ist die psychische Belastung, die – unabhängig fast von einem Delikt – zu bewältigen ist aufgrund der Isolation, die nicht freiwillig gewählt wurde.»