Lesbos Geflüchtete in die Schweiz holen: Jetzt machen Parlamentarier dem Bundesrat Druck

Von Jennifer Furer

27.4.2020

Der Plan steht, die Umsetzung hapert: Der Bundesrat will seit Wochen Asylsuchende aus Lesbos in die Schweiz holen. Bis heute ist dies nicht geschehen. Jetzt schalten sich die zuständigen Kommissionen des Parlaments ein.

Überfüllte Lager, fehlende Hygiene und stundenlanges Anstehen für Nahrungsmittel: Die Situation in den griechischen Flüchtlingslagern ist prekär. Noch kritischer würde die Lage, wenn sich das Coronavirus ausbreiten würde. Menschen vor Ort sprechen von einer «Zeitbombe».

22 unbegleitete minderjährige Asylsuchende will die Schweiz aus der Ägais in die Schweiz holen. «Allerdings behindert die Corona-Krise die Aufnahme dieser unbegleiteten, minderjährigen Asylsuchenden», sagte Lukas Rieder vom Staatssekretariat für Migration SEM Mitte April zu «Bluewin». Bis heute sind keine Geflüchteten aus Griechenland in der Schweiz angekommen.

«Aktuell sind wir daran, den Transfer in die Schweiz zu organisieren», erklärt Daniel Bach,  Leiter Stabsbereich Information und Kommunikation am Montag gegenüber «Bluewin». Das werde aber noch etwas Zeit in Anspruch nehmen.

Ein Hohn, findet SP-Nationalrat Cédric Wermuth. Er will, dass das zuständige Departement endlich handelt. «Es gibt keinen einzigen Grund, warum Menschen derzeit nicht aus den Flüchtlingscamps geholt werden können», fügt Wermuth an. «Es ist die Politik, die entscheidet, ob die Menschen weiter in der Hölle im Camp in Moria schmoren müssen und sitzen gelassen werden.»

Bundesrat zum Handeln bewegen

Auch Rückholaktionen von zig Touristen, die im Ausland gestrandet sind, seien momentan möglich. «Die Schweiz prahlt förmlich mit der grössten Rückholaktion der Schweizer Geschichte. Aber warum sind Sonderflüge mit geflüchteten Menschen nicht möglich?», fragt sich Wermuth.

Petition gestartet
Youtube evakuieren jetzt

«Auf den griechischen Inseln in der Ägäis ereignet sich vor unseren Augen eine stille Katastrophe», heisst es im Text zur Petition #evakuierenjetzt. In dieser werden der Bundesrat und das Parlament dazu aufgerufen, angesichts der momentanen Corona-Krise möglichst viele Geflüchtete aus der Ägäis in die Schweiz zu holen.

Bis heute haben sich 130 Organisationen, 153 Persönlichkeiten als Erstunterzeichnerinnen und über 34’000 Menschen dem Appell angeschlossen – sie erhält auch prominente Unterstützung aus der Unterhaltungs, Kultur- und Politbranche. Darunter befinden sich etwa Rapper Stress, die Musiker Lo & Leduc und Schauspielerin Melanie Winiger sowie die Satiriker Victor Giacobbo und Mike Müller.

Fakt sei, so der SP-Politiker, dass der Wille im zuständigen politischen Departement und im Bundesrat nicht vorhanden sei. «Ich bin schockiert, wie kaltherzig der Bundesrat auf die Krise in Griechenland reagiert.»

Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats, in der auch Wermuth sitzt, hat nun in einer Kommissionsmotion den Bundesrat beauftragt, «sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass die Situation auf den ägäischen Inseln substanziell verbessert wird.»

Wermuth sagt, dass der Wille etwas bezüglich der Lage der Geflüchteten in Griechenland zu unternehmen, in der Kommission klar mehrheitsfähig gewesen sei. Allerdings: «Die Formulierung der Motion ist nicht wahnsinnig mutig.»

Deutschland fliegt Geflüchtete ein

Der SP-Politiker hätte sich gewünscht, dass diese präziser ausfällt und die Selbstverpflichtung explizit und konkret genannt wird – sprich: eine fixe Anzahl an Menschen definiert wird, die in die Schweiz evakuiert werden sollen. Dies sei allerdings in der Kommission nicht mehrheitsfähig gewesen.

Wermuth ist sich nicht sicher, ob die Formulierung ausreicht, um etwas zur Verbesserung der Lage in den Flüchtlingscamps in Griechenland beizutragen. «Schliesslich besteht die Handlungsnotwendigkeit, Menschen flächendeckend aus den überfüllten Camps zu evakuieren. Das muss in den nächsten Wochen geschehen, das Virus ist nicht aufzuhalten.»

Es handle sich ausserdem nicht nur um eine moralische Debatte, sagt Wermuth. Es gebe internationale Vereinbarungen, die es jetzt einzuhalten gelte. «Es ist ganz klar, dass sich alle Länder, auch die Schweiz, verpflichtet haben, sich Menschen in Not anzunehmen», sagt Wermuth. «Seit Jahren verschliesst Europa die Augen vor dieser Verantwortung.»

Zwar hätten Länder wie Luxemburg und Deutschland bereits geflüchtete Menschen aus Griechenland aufgenommen. Die Anzahl sei aber sehr bescheiden, sagt Wermuth. Luxemburg hat vor rund drei Wochen zwölf Kinder per Sonderflug evakuiert. Vor einer Woche nahm Deutschland 47 unbegleitete minderjährige Asylsuchende bei sich auf.

«Wenn grosse und reiche Länder, wie Deutschland und die Schweiz nicht mit einem guten Beispiel vorangehen, dann ziehen andere Staaten nicht nach», so Wermuth.


Auch in Deutschland gibt es Proteste gegen die hiesige Politik – obwohl und gerade weil die Regierung 47 Geflüchtete aus Griechenland aufgenommen hat. Grund: Derzeit werden 80'000 Saisonkräfte aus Osteuropa nach Deutschland geflogen. Die Bundesregierung hatte wegen der Coronavirus-Pandemie mit vielen Reisebeschränkungen eine Sonderregelung für Spargel- und Erdbeeranbauer geschaffen, die als «systemrelevant» gelten.
Auch in Deutschland gibt es Proteste gegen die hiesige Politik – obwohl und gerade weil die Regierung 47 Geflüchtete aus Griechenland aufgenommen hat. Grund: Derzeit werden 80'000 Saisonkräfte aus Osteuropa nach Deutschland geflogen. Die Bundesregierung hatte wegen der Coronavirus-Pandemie mit vielen Reisebeschränkungen eine Sonderregelung für Spargel- und Erdbeeranbauer geschaffen, die als «systemrelevant» gelten.
Keystone

Weitere Kommission schaltet sich ein

Auch SVP-Nationalrat Andreas Glarner ist der Meinung, dass den geflüchteten Menschen in Griechenland geholfen werden muss. «Ich habe diese Flüchtlingslager besucht: Sie sind menschenunwürdig und völlig überfüllt.»

Als Präsident der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats trägt er die Motion mit, die von der Regierung fordert, auch eigene Solidaritätsleistungen zu ergreifen – also, beispielsweise Menschen zu evakuieren.

Als Asylchef der SVP hat er jedoch eine andere Meinung. «Ich bin der Meinung, dass vor Ort geholfen werden muss», sagt Glarner. Schliesslich würden sich die geflüchteten Menschen in Griechenland nicht mehr auf Kriegsgebiet, sondern auf «sicherem» EU-Boden befinden.

Es sei zudem ein falsches Zeichen, das ausgesendet werde, wenn Asylsuchende in Europa aufgenommen werden. «Wir vermitteln den Flüchtlingen, dass sie nur lange genug aushalten müssen, damit sie nach Europa kommen können», sagt Glarner. Zudem würden solche Überführungen das Schlepper-Business ankurbeln. «Schliesslich machen Schlepper mit dem Verkauf von Überfahrt-Tickets nach Griechenland ein Geschäft.»

Auch Thema in Ständerat-Kommission

Nicht nur im Nationalrat sollen die geflüchteten Menschen aus Griechenland und deren Überführung in die Schweiz Thema werden. Die  Genfer Grünen-Ständeratin Lisa Mazzone wird dieselbe Motion, die von der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats bereits verabschiedet wurde, am Donnerstag auch in die Staatspolitischen Kommission des Ständerats tragen.

Kommt die Motion auch in der Staatspolitischen Kommission des Ständerats durch, wird sie bereits am 4. Mai in der ausserordentlichen Session dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt. Findet das Begehren sowohl im National- wie auch im Ständerat eine Mehrheit, wird sie dem Bundesrat überwiesen.

Ständerätin Lisa Mazzone will die Motion auch in den Ständerat tragen.
Ständerätin Lisa Mazzone will die Motion auch in den Ständerat tragen.
Keystone

Mazzone hofft, dass die Motion über die Parteigrenzen hinaus auf Zustimmung stösst. «So würde dem Bundesrat das Signal ausgesendet, dass er den richtigen Kurs einschlägt, wenn er sich bei der Flüchtlingskrise in Griechenland noch aktiver engagiert.»

Auch die Aussenpolitische Kommission des Nationalrates hat sich in die Diskussion rund um die Aufnahme von geflüchteten Menschen aus Griechenland eingeschaltet. Sie fordert in einem offenen Brief rasches Handeln von der Bundesrätin Karin Keller-Sutter als Vorsteherin des Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartements.

Die Kommission hat mit 16 zu acht Stimmen zudem entschieden, eine Motion einzureichen, mittels der dem Bundesrat der Auftrag gegeben werden soll, die humanitäre Hilfe für das Jahr 2020 um 100 Millionen aufzustocken. Damit soll insbesondere auch den Appellen der internationalen Organisationen zur Bekämpfung der Covidkrise sowie der «prekären Lage» in Flüchtlingslagern Rechnung getragen werden. 


Leben und sterben am Wasserloch – die Bilder:

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