Walliser Long-Covid-Patient«Ich sah die Wörter, aber ich konnte sie nicht aussprechen»
Valérie Passello
11.3.2023
Roger steckt sich wie viele andere Anfang 2022 mit Covid an. Sein Zustand verschlechtert sich zusehends. Ein monatelanges Martyrium beginnt.
Valérie Passello
11.03.2023, 12:04
11.03.2023, 15:02
Valérie Passello
Drei Tage im Bett, etwas Fieber, Kopfschmerzen: Für Roger (*Name der Redaktion bekannt), doppelt gegen Covid geimpft, beginnt die Geschichte wie für Millionen andere auch. Doch ein wenig später ändert sich für den 45-Jährigen alles.
Nach zehn Tagen Isolation geht Roger wieder zur Arbeit. «Ich war ziemlich müde, aber alle sagten mir, dass das normal sei, also machte ich mir keine weiteren Gedanken.» Zumal Anfang Februar auf der Arbeit jeweils Hochbetrieb herrsche, so Roger.
Der Walliser übt einen intellektuellen Beruf mit unregelmässigen Arbeitszeiten aus, bei dem sich stressige Phasen mit ruhigeren Momenten abwechseln. Er ist daran gewöhnt und liebt seine Arbeit. Bei der Arbeit ist er diszipliniert, präzise, effizient und vergisst selten etwas.
«Als hätte sich eine Art kognitiver Nebel über ihn gelegt.»
Dennoch zeigen sich wenige Tage nach Rückkehr der Erkrankung immer besorgniserregendere Anzeichen. «Ich wurde immer müder und konnte mich nicht mehr erholen», sagt Roger. Obwohl er sehr viel schlief.
An einer Fasnachtsparty habe er dann realisiert, dass etwas nicht stimmen könne, berichtet der Betroffene. Durch den Lärm konnte er sich nicht konzentrieren und wahrnehmen, was man ihm sagte. «Ich war nicht mehr ich selbst», sagt Roger.
Seine Frau bestätigt die Beobachtung: «Er hatte sich verändert, als wäre er völlig abwesend, als hätte sich eine Art kognitiver Nebel über ihn gelegt.» Daraufhin hätten sie sich viel über Long Covid informiert und begannen, sich ernsthaft Sorgen zu machen: Was wenn Roger Long Covid hat? Was bedeutet das für mich und die Familie?
Roger wurde über die Tage immer müder und erschöpfter. Um sich zu erinnern, habe er sich Notizen machen müssen, die er dann doch wieder vergass.
Rückblickend muss Roger eingestehen, dass er nicht wahrhaben wollte, dass er wohl an Long Covid erkrankt war. Bis ein Arzt die Diagnose stellte. Für zehn Tage schrieb er Roger krank, was der 45-Jährige als übertrieben empfand. Er hoffte insgeheim, dass alles bald wieder in Ordnung kommen würde. Ein Irrtum.
Symptome wie bei einem Schlaganfall
Im März 2022, also knapp einen Monat nach der Corona-Infektion, wurde Rogers Verwirrtheit noch grösser.
Er erinnert sich an einen Vorfall, als er sich Fragen für ein Vorstellungsgespräch notiert hat. Er prüfte die Fragen und es schien alles in Ordnung. Als er nach der Mittagspause nochmals seine Notizen durchgehen wollte, realisierte er: «Ich habe kein einziges Wort geschrieben, sondern nur bedeutungslos Buchstaben aneinandergereiht.»
Seine Frau ergänzt: «Normalerweise hat er einen ausgezeichneten Orientierungssinn.» Sie habe ihm immer vertraut. Aber plötzlich habe sie lernen müssen sich selbst zu orientieren, vor allem in den Ferien, wenn er sich verfahren hatte.
Auch seine Sprache war beeinträchtigt. Roger verdrehte Wörter, fand sie teilweise gar nicht mehr: «Ich sah die Wörter vor meinem geistigen Auge, aber ich konnte sie nicht aussprechen.» So zu arbeiten, sei unmöglich gewesen, sagt Roger. Er wird länger krankgeschrieben. Laut seinem Arzt hatte Roger alle Symptome eines Schlaganfalls erlitten.
Die Angst, sich nicht zu erholen
Laut Medizinern ist das typisch bei Long Covid. «Sie haben mir gesagt, dass es normalerweise drei Monate dauert, bis sich die Leute erholen», erinnert sich Roger. Es folgte eine Reihe von Übungen, die von einer auf Neuropsychologie spezialisierten Psychologin überwacht wurden.
Dabei ging es vor allem um Konzentration und Merkfähigkeit: «Es waren wirklich Tests auf Primarschulniveau, aber ich konnte sie anfangs überhaupt nicht bewältigen», erklärt Roger. Mit jeder Therapiestunde sei es dann besser geworden.
Während dieser ganzen Zeit blieb er zu Hause und unternahm fast nichts mehr ohne seine Frau, weil er Angst hat, etwas zu vergessen oder sich irgendwo zu verlaufen.
Obwohl seine Kinder und seine Frau ihn nach Kräften unterstützten und Verständnis für die Situation hatten, war Roger auch nach den drei Monaten noch nicht geheilt. «Ich hatte Angst, dass es nie wieder so wird wie früher», sagt seine Frau.
«Ich bezweifle, dass die Müdigkeit je wieder weggehen wird.»
Glücklicherweise entwickelt Rogers Arbeitgeber Lösungen, die es ihm ermöglichen, allmählich wieder Fuss im Arbeitsalltag zu fassen. Zunächst mit einem 20-, dann mit einem 40-Prozent-Pensum, bis er Ende August wieder voll arbeiten konnte.
Auch ein Jahr nach der Infektion fühlt er sich noch nicht über den Berg: «Ich bezweifle, dass die Müdigkeit eines Tages verschwinden wird, aber damit kann ich umgehen», sagt er. Seine Frau ergänzt, sie habe manchmal das Gefühl, dass ihr Mann «um zehn Jahre gealtert» sei.
Roger muss nun lernen, sich selbst wieder zu vertrauen und sich zu motivieren, sich zu bewegen, was einige Zeit in Anspruch nehmen wird, wie ihm im Institut Enmouvement in Lausanne mitgeteilt wurde. «An manchen Tagen, auch heute noch, erschöpft mich allein der Gedanke, meine Schuhe anzuziehen, um 15 Minuten spazieren zu gehen», sagt er.
Aber er bleibt positiv: «Während der langen Pause habe ich Kochen gelernt, das macht mir Spass.» Ausserdem fahre er jetzt E-Bike, das tue ihm auch gut.