Rekord-Monat für die Rega«In einer solchen Situation bleibt nur eins: Hilfe holen»
lpe
8.8.2022
Auch die Rega spürt die gesteigerte Wanderlust der Schweizer – im Juli flog sie so viele Einsätze wie noch nie. Rega-Chef Ernst Kohler über sich überschätzende Wanderer, schmelzende Gletscher und sein gespaltenes Verhältnis zum Umkehren.
lpe
08.08.2022, 16:39
lpe
Im Juli flog die Rega innerhalb eines Monats 2120 Helikoptereinsätze – ein Rekord, aber kein Ausreisser. «Noch vor zehn Jahren war ein sogenannter 1000er-Monat für uns bemerkenswert», sagt Rega-Chef Ernst Kohler im Interview mit dem «Tages-Anzeiger». Nun zähle die Rega regelmässig fünf bis sechs Monate, in denen diese Marke überschritten werde.
In den letzten sechs Monaten habe man 25 Prozent mehr Einsätze geflogen als noch im Rekordjahr 2021. Die Rega habe darum Massnahmen ergriffen: «Wir haben mittlerweile 14 über die ganze Schweiz verteilte Einsatzbasen und deren Einsatzbereitschaft sukzessive ausgebaut», damit könne man die Zunahme meistern.
Die Zunahme der Einsätze sei zwar in allen Bereichen bemerkbar, besonders deutlich zugenommen hätten jedoch Rettungen von Wander*innen und Bergsteiger*innen, sagt Kohler.
Begünstigt habe die Entwicklung einerseits das gute Wetter im letzten Monat und der Einfluss von Corona, der mehr Menschen in die Berge locke. «Viele haben die Schweizer Bergwelt während der Pandemie für sich wieder- oder neu entdeckt, und das hallt bis heute nach», sagt er.
Jedoch seien die steigenden Einsatzzahlen auch mit den Veränderungen in der Bergwelt in Verbindung zu bringen. Einerseits sei da die Gletscherschmelze in der Höhe, welche die Felsen bröckeln lasse. Wo Hochtour-Routen vor zehn Jahren noch über Schnee führten, erwartet einen jetzt vielleicht schon Eis, das habe er selbst erlebt, erzählt Kohler. Das könne überraschen und überfordern.
Aber auch bei Wanderungen in tieferen Lagen hätten sich die Verhältnisse verschlechtert. Weil die Böden im Sommer teilweise über Nacht nicht mehr gefrieren und die Nullgradgrenze auch mal über 5000 Meter steigt, werde das Gestein lose. Das führe einerseits zu mehr Steinschlägen, aber auch zu mehr Geröll, «was wiederum fordernder Untergrund ist».
Auch die Hitze sei ein Faktor, der die Einsatzzahlen im Juli beeinflusst hätte. Dehydration könne Leistungsfähigkeit und Konzentration negativ beeinflussen, diese seien je nach Beschaffenheit des Wegs essenziell, so die Einschätzung des Bergretters.
Die Ausrüstung sei nicht das Problem. «Wanderer in Turnschuhen sind eher eine Seltenheit.» Vielmehr würden Leute Wanderrouten nicht dem eigenen Können anpassen und den Einfluss von Höhe, Steigung und allenfalls auch des eigenen Alters unterschätzen.
Doch wie reagieren, wenn man sich überfordert fühlt? Umzukehren sei nicht immer die richtige Reaktion, betont Kohler. «Ich habe dazu ein gespaltenes Verhältnis.» Sein Beispiel: «Stellen Sie sich einen sehr steilen Aufstieg vor. Einen, der zusätzlich mit einem Stahlseil gesichert ist, an dem sich die Wanderin festhalten kann.» Der Abstieg sei in diesem Fall gerade noch viel fordernder. «In einer solchen Situation bleibt nur eins: Hilfe holen.»
Die Hemmschwelle sei teilweise zu hoch, den Rega-Notruf zu tätigen, kritisiert Kohler. Er begegne immer wieder Unfällen, die sich hätten vermeiden lassen, wenn Betroffene rechtzeitig um Hilfe gebeten hätten – und nicht erst spät abends bei Dunkelheit oder wenn sie verletzt sind. Kohler empfiehlt die Rega zu rufen, sobald Angst oder Anzeichen von Schwäche im Spiel sind, aber auch, wenn man mit Kindern in heikle Situationen gerate.
Eine Alarmierung bedeute nicht, «dass gleich die Rotoren des Helikopters starten». Die Mitarbeiter der Einsatzzentrale könnten in gewissen Situationen die Betroffenen mithilfe von Tipps oder durch das Kontaktieren eines Warts einer nahegelegenen Hütte aus der Situation helfen. «Im Grunde sind wir auch die Dargebotene Hand in den Bergen.»